Judith Goetz

Rechte Klagen

  • 23.02.2017, 20:58
Wie Rechtsextreme die „Lügenpresse“ durch Klagen mundtot machen wollen.

Wie Rechtsextreme die „Lügenpresse“ durch Klagen mundtot machen wollen.

Die Ablehnung von gesellschaftskritischem Engagement Andersdenkender verdeutlicht sich in vielen rechtsextremen Kreisen nicht zuletzt in ihrem Umgang mit (linken und alternativen) Medien. Durch Vorwürfe wie jenem der „Lügenpresse“ wird dabei versucht, sich gegen Kritik zu immunisieren und politische Gegner_innen durch finanziell aufwändige Klagen einzuschüchtern.

„SYSTEMHANDLANGER“. Journalist_innen scheinen es aktuell angesichts des sinkenden gesellschaftlichen Vertrauens in Medien und der steigenden Angriffe nicht leicht zu haben. So zeigte 2016 eine repräsentative Umfrage für den Bayerischen Rundfunk, dass die Mehrzahl der in Deutschland lebenden Menschen die Medien für gelenkt hält. Bedient und verstärkt wurde das Ressentiment der „gleichgeschalteten“, „Meinungsbildung betreibenden“ Berichterstattung unter anderem auf den von antimuslimischem Rassismus geprägten Pegida- Demonstrationen. Im Skandieren von Begriffen wie „Lügen-“ oder auch „Systempresse“ bei derartigen Events verdeutlicht sich, dass von weit rechts Außen bis zur gesellschaftlichen Mitte Medien pauschal als „Handlanger des Systems“ und manipulierende Propaganda imaginiert werden, gegen die sich die vermeintliche Rebellion des Volks zur Wehr setzen müsse. So wird zwar nach Meinungsfreiheit oder -vielfalt gerufen, ohne diese jedoch selbst zu vertreten, da die eigene Perspektive als die einzig wahre inszeniert und der Rest als Lügen verunglimpft wird. Dieser Vorwurf trifft somit vor allem jene, die versuchen, differenziert, kritisch und sachlich zu berichten. Obgleich der Begriff „Lügenpresse“ sogar zum Unwort des Jahres 2014 gewählt wurde, blieb eine weiter reichende Diskussion über die verantwortungsvolle Aufgabe der Medien aus. Dennoch liefern diese Entwicklungen ein anschauliches Beispiel für die tiefe Verankerung rechtsextremer Logiken in der gesellschaftlichen Mitte.

BILDRECHTE UND GEGENKLAGEN. Während manche Journalist_innen in vorauseilendem Gehorsam und gemäß des gesellschaftlichen Klimas ohnehin bereits nach rechts geschwenkt sind, versuchen insbesondere linke Medien nach wie vor ungeschönt über rechtsextreme Entwicklungen und Aktivitäten in Österreich aufzuklären. Immer öfter sind sie in dieser Arbeit mit Klagen von rechten/ rechtsextremen Einzelpersonen, Gruppen und Parteien konfrontiert. Egal, ob gegen den Tiroler SPÖ-Chef, der Norbert Hofer (FPÖ) als „Nazi“ bezeichnet hatte, die Betreiberin des Cafés „Fett und Zucker“, die mittels eines Schildes Hofer-Wähler_ innen aufgefordert hatte, ihren Betrieb nicht zu besuchen. Aber auch die Anfechtung der Bundespräsidentschaftswahl zeigt, wie gerne die FPÖ klagt. Aus diesem Grund versuchte die Initiative „Heimat ohne Hass“, die mittels eines Internetblogs rechtsextreme Vorfälle in Österreich dokumentiert, vorletztes Jahr bei einer Pressekonferenz gemeinsam mit anderen darauf aufmerksam zu machen, dass die FPÖ seit geraumer Zeit versuche, antifaschistische Projekte auf diese Weise mundtot zu machen.

„Heimat ohne Hass“ muss sich nämlich mit einer Urheber_innenrechtsklage wegen der Veröffentlichung eines Fotos auseinandersetzen. Im Zuge der polizeilichen Räumung des linken Projekts „Pizzeria Anarchia“ in Wien, hatte der Blog über einen freiheitlichen Personalvertreter berichtet, der vor Ort bewaffnet und mit einem eisernen Kreuz aufgetreten war. Geklagt hatte in diesem Fall die freiheitliche Gewerkschaft AUF. Eine Gegenklage der FPÖ beschäftigte auch das linke Kollektiv „Filmpirat_innen“. Nachdem die FPÖ widerrechtlich Materialien des Filmkollektivs verwendet hatte, schlug die Partei mit einer Gegenklage wegen „falscher Behauptungen“, die „die Meinungsfreiheit der FPÖ behindern“ würden, zurück. Auch gegen das Urteil, das den „Filmpirat_innen“ Recht gab, legte die Partei Berufung ein. Bedrohlich wirken auch Fälle staatlicher Angriffe auf Jounalist_innen und Medien. So wurden beispielsweise 2007 in Berlin mehrere Fotografen vom Landeskriminalamt (LKA) wegen „Fotografieren von Neonazis bei Naziaufmärschen“ überwacht. Ermittelt wurde vom Berliner LKA (Abteilung Linksextremismus) auch gegen das Antifaschistische Pressearchiv und Bildungszentrum (apabiz), weil sie in einem Dossier über einen Neonaziaufmarsch einen Teil eines indizierten Aufruftexts zur Demo zitiert hatten.

EINSCHÜCHTERUNGSSTRATEGIEN. Wie die beiden Beispiele aus Österreich verdeutlichen, geht es oftmals nicht um politische Inhalte, die vor Gericht zur Diskussion gestellt werden sollen. Rechte bedienen sich dem Mittel der Klage vor allem, um öffentliche Kritik durch mit Rechtsstreiten verbundene Einschüchterungen oder große finanzielle Belastungen zu delegitimieren und zum Schweigen zu bringen. Nicht selten sind die Klagswerte im fünfstelligen Bereich angesiedelt, was bedeutet, dass zumeist das nötige Kleingeld fehlt, um dagegen vorzugehen. Die Anzahl derartiger Klagen und Klagsdrohungen ist zudem weitaus höher als öffentlich bekannt. Dass selbst von betroffenen Medien selten darüber berichtet wird, liegt nicht zuletzt daran, dass Rechtsextreme damit in erster Linie versuchen, linke/kritische Strukturen einzuschüchtern und die Klagsdrohungen selbst meist wenig Gehalt haben. Vielmehr ist es Teil der Einschüchterungsstrategie, unabhängig vom erwarteten Erfolg zeitraubend und belastend viele Ressourcen der Betroffenen zu binden.

Judith Goetz ist Literatur- und Politikwissenschafterin und Mitglied der Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit (fipu.at).

Möglichkeiten antinationaler Kritik

  • 23.02.2017, 19:42
Thorsten Mense hat in seinem kürzlich in der Theorie.org-Reihe erschienenen Einführungswerk „Kritik des Nationalismus“ ein innerhalb der Linken durchwegs kontroversiell diskutiertes Thema einer fundierten Analyse unterzogen.

Thorsten Mense hat in seinem kürzlich in der Theorie.org-Reihe erschienenen Einführungswerk „Kritik des Nationalismus“ ein innerhalb der Linken durchwegs kontroversiell diskutiertes Thema einer fundierten Analyse unterzogen. Er beleuchtet die Entstehungsgeschichte, Transformationen und den facettenreichen konstruierten Charakter der Idee der Nation sowie kritische Nationalismustheorien. Eingangs wird festgestellt, dass von Marx und Engels über die Kritische Theorie bis hin zum Dekonstruktivismus einer Theorie des Nationalismus nur wenig Bedeutung zugemessen wurde. Bei Nationalismus handelt es sich nicht nur um ein ideologisches Konstrukt, sondern um ein durchwegs wirkungsmächtiges Phänomen, das gleichermaßen als Welterklärung und Sinnstiftung funktioniert und vor allem über die Ethnisierung des Sozialen und Politischen hergestellt wird. Gerade aktuelle Berufungen auf ein vermeintlich nationales Interesse fungieren, so der Autor, als wirkmächtige neue Herrschaftslegitimation, die zur Inklusion bestimmter Menschen nach den Kriterien „Abstammung“ und „Herkunft“, bei gleichzeitiger Exklusion anderer, führt. Im Zentrum von Menses Analyse steht auch die vor allem in linken Kreisen verbreitete Unterscheidung zwischen Befreiungs- und Unterdrückungsnationalismen. Obgleich Mense sich für Differenzierungen, beispielsweise Befreiung von kolonialer Herrschaft betreffend, stark macht, zeigt er mit aller Deutlichkeit, dass die Argumente vermeintlich linker Anhänger_ innen des Befreiungsnationalismus sich kaum von jenen der extremen Rechten unterscheiden. Die Bedeutung und Neuheit von Menses Ausführungen liegt vor allem in seiner ideologiekritischen Perspektive, mit der er Nationalismus in den Kontext einer Kritik an Staat und bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaft stellt und damit Grundsteine einer wirksamen Nationskritik legt. Schwachstellen ergeben sich lediglich dadurch, dass die Funktionsweisen von Sexismus und Antisemitismus zwar in kurzen Abschnitten, nicht jedoch als Querschnittsthemen abgehandelt werden.

Thorsten Mense (2016): Kritik des Nationalismus. Stuttgart: Schmetterling Verlag 214 Seiten, 10 Euro.

Judith Goetz ist Mitglied der Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit (www.fipu.at).

„Drogenfreier Volkskörper“

  • 22.06.2016, 14:02

Rechtsextreme Drogenpolitiken, rechtsextremer Drogenkonsum.

Wenngleich FPÖ-Politiker_innen sich tagesaktuell immer wieder zu drogenpolitischen Themen positionieren, bleibt die Thematik im Parteiprogramm der FPÖ jedoch weitgehend ausgespart. Anders verhält es sich bei der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD), in deren Parteiprogramm Drogenkriminalität „hohe Priorität“ zugeschrieben wird, die „härter zu ahnden“ wäre. Die Alternative für Deutschland (AfD) wiederum fordert „Süchtigen […] im Wege der kontrollierten Abgabe“ Zugang zu Drogen zu ermöglichen und glaubt, damit Kriminalität und „Schwarzmarkt“ bekämpfen zu können. Als gemeinsamer Nenner dieser durchwegs unterschiedlichen Positionen fungieren im rechtsextremen Parteienspektrum vor allem die Ablehnung liberaler Drogenpolitiken sowie die rassistische Aufladung damit verbundener Diskurse. Dabei werden Feindbilder geschaffen, die den Vertrieb von Drogen ausschließlich bei vermeintlich „Fremden“ orten. Es handle sich, so die Konstruktion, um organisierte „ausländische“ Banden, die versuchen würden, den „Volkskörper“ sprichwörtlich zu vergiften. National Gesinnte hingegen würden und müssten jegliche Form der Verbreitung von Drogen aus selbigem Grund ablehnen. Das „eigene Volk“ müsse „sauber“, „rein“ beziehungsweise „drogenfrei“ gehalten werden. Die tiefe Verankerung des Feinbildes des „ausländischen Drogendealers“ in Gesellschaft, Politik und Medien ermöglicht es Vertreter_innen der extremen Rechten, sich als „Saubermacher_ innen“ und „Beschützer_innen des Volks“, insbesondere der angeblich bedrohten Jugend zu inszenieren. Zudem eignet sich das Drogenthema, als vermeintlich politisch wenig belastetes, um in der sogenannten Mitte der Gesellschaft zu punkten.

WIDERSPRÜCHLICH. Dennoch spiegeln sich die prohibitionistischen Forderungen rechtsextremer Parteien nicht unbedingt im Verhalten ihrer Anhänger_innen wider, da in regelmäßigen Abständen gegen Angehörige rechtsextremer und neonazistischer Szenen nicht nur wegen Konsums von, sondern auch Handel mit Drogen ermittelt wird. So war beispielsweise der 2010 aufgeflogene neonazistische Kulturverein Objekt 21 nahe Attnang- Puchheim in Drogen- und Waffenhandel involviert. Auch in Deutschland lag im Zuge von Ermittlungen immer wieder die Vermutung nahe, dass sich neonazistische Szenen über Drogenhandel finanzieren. Zudem sind Fälle bekannt, in denen Rechtsextreme ihre Taten, wie das Zeigen des Hitlergrußes oder auch Gewalt gegen Menschen, (vor Gericht) mit vorangegangenem Drogenkonsum zu entschuldigen versuchten.

Auch in den Reihen der FPÖ selbst kommt es immer wieder zu „Skandalen“ im Zusammenhang mit Drogenmissbrauch. So standen zum Beispiel letztes Jahr eine Polizeibeamtin und FPÖ-Bezirksfunktionärin sowie ein Mitglied der Polizeigewerkschaft Aktionsgemeinschaft Unabhängiger und Freiheitlicher (AUF) in Innsbruck im Visier von Ermittlungen wegen Verstößen gegen das Suchtmittelgesetz. Widersprüchlichkeiten in rechtsextremen Drogenpolitiken werden auch in Bezug auf die Haltungen rechtsextremer Parteien zu Tabak und Alkohol evident. Abgesehen davon, dass die „Volksdroge“ Alkohol in den meisten rechtsextremen Kreisen ohnehin nicht als Suchtmittel anerkannt wird, inszeniert sich die FPÖ in Abgrenzung zur Regierung als „Raucher_ innenpartei“. Während in Bezug auf andere Suchtmittel selbstbestimmte Konsummöglichkeiten gänzlich abgelehnt werden, tritt die FPÖ in der von ihr ins Leben gerufenen Petition „Nein zum absoluten Rauchverbot“ für „die Wahlfreiheit der Konsumenten und Gastronomen“ ein.

PANZERSCHOKOLADE. Bereits im Zweiten Weltkrieg dürfte die Haltung der Nationalsozialist_innen gegenüber Drogen alles andere als ablehnend gewesen sein. Adolf Hitler selbst soll mit sogenannten Nachtschattendrogen und Strychnin experimentiert, Josef Goebbels Morphium und Hermann Göring Kokain konsumiert haben. In der deutschen Wehrmacht und Luftwaffe wurde vor allem im Blitzkrieg gegen Polen Pervitin, heute bekannt als Crystal Meth, eingesetzt, um einerseits die Konzentrations- und Leistungsfähigkeit der Soldaten zu steigern und andererseits ihre Angstgefühle einzudämmen. Über 200 Millionen „Stuka-Tabletten“, „Hermann-Göring- Pillen“, „Panzerschokolade“ und „Fliegermarzipan“, wie die entsprechenden „Aufputscher“ genannt wurden, sollen zwischen 1939 und 1945 eingesetzt worden sein.

STRAFEN STATT HELFEN. Darüber hinaus lässt sich sagen, dass rechtsextreme Ideologie, anstelle von Prävention und Ursachenbekämpfung oder der Förderung eines selbstbestimmten, verantwortungsvollen Konsumverhaltens, auf Repression, härtere Strafen und Ausbau von Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen setzt. Von vielen rechten und rechtsextremen Parteien sowie ihren Anhänger_innen werden jedoch nicht nur liberale Drogenpolitiken abgelehnt, sondern auch Unterstützungsprogramme für Suchterkrankte. Die Forderung nach „Zwangstherapie für Drogenabhängige“, wie sie von der FPÖ-Nationalratsabgeordneten Dagmar Belakowitsch- Jenewein aufgestellt wurde, ignoriert beispielsweise, dass nicht jeder Konsum mit einer Suchterkrankung gleichzusetzen ist und die Wirksamkeit derartiger Maßnahmen nicht durch Zwang, sondern ausschließlich durch (freiwillige) Bereitschaft der Betroffenen erreicht werden kann.

Auch Waldarbeit oder landwirtschaftliche Tätigkeiten, wie es die FPÖ begleitend zum Entzug vorgeschlagen hat, zielen nicht notwendigerweise auf die Heilung ab. Vielmehr wird deutlich, dass sich hinter der Ablehnung von Suchthilfe auch gängige Muster menschenfeindlicher, sozialdarwinistischer Politiken verbergen, in denen schwächere Mitglieder der Gesellschaft nicht unterstützt, sondern im Gegenteil als Last für die Allgemeinheit erachtet werden. Die AfD fordert in ihrem Parteiprogramm beispielsweise, „nicht therapierbare Alkohol- und Drogenabhängige sowie psychisch kranke Täter […] nicht in psychiatrischen Krankenhäusern, sondern in der Sicherungsverwahrung unterzubringen“. Hinzu kommt außerdem, dass sich rechtsextreme und neonazistische Gewalt auch immer wieder gegen soziale Randgruppen wie Konsument_innen von Drogen und Suchterkrankte richtet.

Judith Goetz ist Mitglied der Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit und studiert Politikwissenschaften im Doktorat an der Uni Wien.

Retter_innen der Kernfamilie

  • 10.03.2016, 17:17

Stärker denn je nehmen Rechtsextreme (staatliche) Gleichstellungspolitiken und sexualpädagogische Maßnahmen ins Visier. Besondere Bedeutung kommt dabei den Debatten rund um vermeintliche „Frühsexualisierung“ zu.

Obgleich die Bedeutung des Schlagworts „Frühsexualisierung“ in rechtskonservativen und rechtsextremen Diskursen zumeist nicht näher ausgeführt wird, scheint sich der Terminus in den letzten Jahren zu einem Kampfbegriff entwickelt zu haben. Er wird dabei vor allem zur Abwehr zeitgemäßer pädagogischer Ansätze der Sexualerziehung im frühen Kindesalter zum Einsatz gebracht, die Kindern ein positives Körpergefühl, Abbau von Schamgefühlen und die Entwicklung einer verantwortungsvollen, selbstbestimmten Sexualität ermöglichen sollen. Die Bestrebungen zielen unter anderem auf die Befähigung ab, (sexualisierte) Gewalt zu erkennen und sich gegen diese zur Wehr zu setzen.

In kindergerechter Weise werden Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit nur als eine von vielen gleichberechtigten Möglichkeiten geschlechtlicher und sexueller Lebens- und Begehrensformen präsentiert, von „natürlichen“ Vorstellungen von Sexualität wird Abstand genommen. Grund genug für konservative und rechte Kräfte, Sturm zu laufen. Anlass für Diskussionen lieferten in Deutschland ein Methodenbuch zur „Sexualpädagogik der Vielfalt“ sowie Bestrebungen, „Vielfalt sexueller und geschlechtlicher Identitäten“ in Sexualkunde-Unterrichtspläne zu integrieren.

In Österreich wiederum stand vor allem die 2012 vom Verein Selbstlaut herausgegebene sexualpädagogische Broschüre „Ganz schön intim“, die Lehrer_innen Anregungen für die Thematisierung von Liebe und Sexualität im Unterricht liefert und unter anderem Selbstbefriedigung, Patchwork-Familien, gleichgeschlechtliche Beziehungen und Intersexualität selbstverständlich behandelt, im Fokus eines vermeintlichen Skandals. Sowohl von ÖVP, FPÖ, BZÖ als auch (rechts-)katholischen Organisationen wurde die in den Medien als „Sex- Fibel“ (Kurier) oder „Sex-Unterlagen“ (Krone) betitelte Broschüre als „verstörend“ kritisiert, da sie homosexuelle Paare heterosexuellen gleichstellt. Dadurch würde, so die homophobe Argumentation, die „Kernfamilie bedroht“ und „Kindern ein irritierendes Bild von Familie und Sexualität“ (Barbara Rosenkranz) vermittelt.

ALTBEKANNTE MUSTER. In der Diskreditierung derartiger pädagogischer Ansätze bedienen sich Rechtsextreme bekannter Methoden, die von selektiven Darstellungen über die Umdeutung von Diskursen bis hin zur Verbreitung von Unwahrheiten reichen. So ist in einschlägigen Veröffentlichungen und Wortbeiträgen von „ideologischer Stimmungsmache“, „staatlicher Umerziehung“, „Indoktrination“, „Manipulation“ oder der „Trans- und Homosexualisierung“ der Kinder und Schulen zu lesen und zu hören.

Nicht selten inszenieren sich die selbsternannten Retter_innen der „Kernfamilien“ dabei als die eigentlichen Diskriminierten, da „Berufsschwule“ und „Genderbeauftragte“, so die beinahe wahnhaften Vorstellungen, bis in die Klassenzimmer die Erziehung ihrer Kinder bestimmen könnten, während die Rechte der Eltern ausgehebelt würden. Der Diskurs fixiere sich zudem zu stark auf „Diskriminierungen, die in der sexuellen Identität begründet sind“, wohingegen andere Benachteiligungen außer Acht gelassen würden. So wird „Frühsexualisierung“ von der Auflösung der Familie bis hin zum Niedergang des Bildungssystems und des (deutschen) Volkes für so ziemlich alles verantwortlich gemacht. Wenig verwunderlich auch, dass in antifeministischer Manier Vaterlosigkeit als schwerwiegenderes Problem in Stellung gebracht und in weiterer Folge bejammert wird, dass (frauenfeindliche) Väterrechtsorganisationen nicht in gleicher Weise an Schulen dürften wie Sexualpädagog_innen. Umschreibungen wie „unnatürlich“, „pervers“ oder gar „pädophil“ zielen zudem nicht nur darauf ab, Homosexualität damit in Verbindung zu bringen, sondern alles von Heterosexualität Abweichende zu stigmatisieren.

BESORGTE ELTERN. Inszenierte Angst- und Bedrohungsszenarien ermöglichen es der extremen Rechten, ihre Positionen als notwendige, legitime Kritik in öffentlichen und medialen Debatten zu präsentieren. Durch die ohnehin tiefe Verankerung derartiger Denkmuster in der Mitte der Gesellschaft, gelingt es ihnen zudem, ihre antifeministische und homophobe Agenda als mainstreamfähig darzustellen.

Die Hartnäckigkeit, mit der Rechtsextreme hierzulande versuchen, sexualpädagogische Debatten zu beeinflussen, zeigte sich zuletzt auch an Hand einer auf progress-online.at erschienenen Rezension zweier Kinderbücher, „die darauf verzichten, die Mär von Zweigeschlechtlichkeit und Vater- Mutter-Kind-Familien zu zementieren“. Grund genug für manche sowohl auf Facebook wie auch der rechtsextremen, von Martin Graf gegründeten, Internetplattform unzensuriert.at heiß zu laufen und mit biologistischen Argumenten die heterosexuelle Kleinfamilie als einzige zur Reproduktion fähige, „natürliche“ Instanz zu verteidigen.

Der Grund für das unglaubliche Mobilisierungspotential derartiger Diskurse kann vor allem darin gefunden werden, dass durch Sexualerziehung im frühen Kindesalter tatsächlich die Möglichkeit besteht, sexistischen, homo- und transfeindlichen Denkmustern präventiv vorzubeugen. In Aufruhr scheinen Rechtsextreme und ihre Verbündeten jedoch vor allem deswegen zu sein, weil durch derartige Bestrebungen nicht nur dichotome Geschlechtervorstellungen ins Wanken geraten, sondern auch die traditionelle heteronormative, bürgerliche Kleinfamilie. Die Familie wird als „Keimzelle, Rückgrat und Leistungsträger“ der Gesellschaft dagegen in Stellung gebracht, um vermeintlich natürliche Geschlechterordnungen und die damit verbundenen Privilegien aufrechtzuerhalten und abzusichern. Das vermeintliche Wohl der Kinder wird für die eigenen Interessen instrumentalisiert.

Judith Goetz ist Literatur- und Politikwissenschafterin und Mitglied der Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit (www.fipu.at).

Die vergessenen Frauen- KZs von Mauthausen

  • 10.03.2016, 14:15
An der Geschichte des ehemaligen Frauen-KZs in Hirtenberg werden die Kehrseiten der zentralistischen Förderstruktur österreichischer Erinnerungskultur und die Marginalisierung der Geschichte von Frauen im hegemonialen Erinnerungsdiskurs deutlich.

An der Geschichte des ehemaligen Frauen-KZs in Hirtenberg werden die Kehrseiten der zentralistischen Förderstruktur österreichischer Erinnerungskultur und die Marginalisierung der Geschichte von Frauen im hegemonialen Erinnerungsdiskurs deutlich.

Trotz der Bemühungen lokaler Gedenkinitiativen konzentriert sich der Großteil der österreichischen Gedenkstättenarbeit auf das ehemalige KZ Mauthausen, das seit 1949 vereinzelt und seit den 1960er Jahren regelmäßig von Schulklassen besucht wird. Bis heute sind schulische Gedenkstättenbesuche nicht verpflichtend, sondern werden lediglich empfohlen. So mag es auch nicht verwundern, dass die meisten der rund 50 ehemaligen Außenlager von Mauthausen weder Schüler_innen bekannt, noch in den hegemonialen Erinnerungsdiskurs integriert worden sind. Ein anschauliches Beispiel dafür liefert die vergessene Geschichte des ehemaligen Frauen-KZs Hirtenberg. In der kleinen Gemeinde im Bezirk Baden erinnert bis auf wenige – von Bäumen überwachsene – Fundamentreste am Gelände der ehemaligen Produktionsanlagen kaum etwas an die Existenz des ehemaligen KZs, in dem Frauen Zwangsarbeit in einer bis heute bestehenden Munitionsfabrik verrichten mussten.

Mit Kriegsbeginn waren die lokalen Arbeiter_innen der seit 1859 bestehenden Munitionsfabrik unter anderem zur Wehrmacht eingezogen und wie an vielen anderen Orten auch durch Zwangsarbeiter_innen ersetzt worden. Rund 400 mehrheitlich politische sowie wenige als „asozial“ verfolgte oder jüdische Frauen (vor allem aus Russland, Italien und Polen) wurden daher ab September 1944 in zwölfstündigen Schichtdiensten zu gefährlichen und gesundheitsschädlichen Arbeiten mit explosiven Materialien gezwungen.

Wenngleich im ehemaligen KZ Hirtenberg nur ein Todesfall bekannt ist, waren die Frauen konstanter Unterernährung und Krankheiten ausgesetzt. Insbesondere im Winter verschlechterte sich die Situation durch Kälte, da die Frauen weder über die nötige Kleidung verfügten, noch die Baracken beheizt werden konnten. Hinzu kamen, wie ehemalige Zwangsarbeiterinnen berichten, die Brutalitäten des Wachpersonals, das sich einerseits durch rund 25 für den äußeren Bereich des Lagers zuständige SS-Männer sowie andererseits durch in Mauthausen oder Ravensbrück ausgebildete KZAufseherinnen zusammensetzte, die die innere Überwachung des Lagers überhatten.

AKTIVE VERDRÄNGUNG. Gerade der Umstand, dass Aufseherinnen immer wieder aus der lokalen Bevölkerung rekrutiert wurden, das Lager selbst in Sichtweite und die Produktionsstätten in Hördistanz zur Ortschaft lagen, gibt Aufschluss darüber, dass das Wissen um das KZ nicht einfach nur vergessen, sondern auch vor Ort aktiv verdrängt wurde. Lediglich ein so genanntes „Kriegerdenkmal“ auf dem Hirtenberger Friedhof weist heute auf die Existenz des ehemaligen KZs hin, da auf dem Grabstein neben männlichen Zwangsarbeitern und zwei unbekannten SS-Männern, die bei einem Luftangriff ums Leben gekommen sind, auch das einzig bekannte Todesopfer des ehemaligen Lagers, Hulja Walja, erwähnt wird. Gleichzeitig verdeutlicht sich an Hand des „Kriegerdenkmals“ auch die im österreichischen Erinnerungsdiskurs oftmals betriebene Vermischung zwischen Opfern und Täter_innen unter dem Vorzeichen, dass Krieg für alle grausam und schlimm gewesen sei, da eine verstorbene ehemalige KZInsassin ganz selbstverständlich am gleichen Grabstein vermerkt wurde wie ehemalige SS-Angehörige.

Weitere Belege für den fragwürdigen Umgang mit dem ehemaligen Lagergelände ergeben sich auch dadurch, dass es phasenweise als Campingplatz benutzt wurde. Obgleich das „Mauthausen Komitee Österreich“ (MKÖ) seit 2011 Begleitungen durch das ehemalige KZ anbietet, werden diese, nicht zuletzt wegen der geringen Bekanntheit des ehemaligen Lagers, selten in Anspruch genommen. So mag es auch nicht verwundern, dass in Hirtenberg erst 2015 zum ersten Mal eine Gedenkfeier für die ehemaligen Zwangsarbeiter_innen abgehalten wurde.

KEIN EINZELFALL. Von den rund 50 ebenfalls kaum bekannten Außenlagern fungierten gleich mehrere als „Frauenlager“. So wurden KZ-Insassinnen von Mauthausen in die ehemaligen Lager Schloss Mittersill, Lenzing, Amstetten, Schloss Lannach und St. Lambrecht deportiert und gezwungen, Fabriks- und Bahnbauarbeiten sowie Reinigungstätigkeiten zu verrichten. Die Geschichte der Frauen in Mauthausen und der ehemaligen Frauenlager wird im hegemonialen Erinnerungsdiskurs sowie der Gedenkkultur bis heute verdrängt oder marginalisiert.

Dies liegt neben herrschenden Geschlechterbildern und -mythen in der Erinnerungskultur auch daran, wie beispielsweise Doris Neuhofer kritisiert, „dass die Förderung der Pluralität von NS-Gedenkstätten in Österreich keine Tradition hat und dass es offensichtlich auch keinen Bedarf von Seiten der Verantwortlichen gibt, dies zu verändern“. Somit behält Peter Gstettner, der sich seit geraumer Zeit um eine würdige Gedenkstätte auf der österreichischen Seite des ehemaligen KZs am Loiblpass in Kärnten/Koroška bemüht, Recht, wenn er meint: „Das Gedenken in Mauthausen zu konzentrieren, bedeutete aber auch, die anderen Verbrechensorte an die Peripherie abzudrängen und sie der Vergesslichkeit der Republik zu überantworten. An den peripheren Tatorten wurden fast alle Spuren des mörderischen Geschehens getilgt.“

Judith Goetz ist Literatur- und Politikwissenschafterin sowie Mitglied der Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit.

Die ,,Volksgemeinschaft‘‘ bröckelt

  • 05.12.2015, 18:25
Der Sammelband „Geschlechterreflektierte Pädagogik gegen Rechts“ versucht theoretische Überlegungen zum Zusammenspiel von Neonazismus, Pädagogik und Geschlecht mit pädagogischen Praxen in Beziehung zu setzen.

Der Sammelband „Geschlechterreflektierte Pädagogik gegen Rechts“ versucht theoretische Überlegungen zum Zusammenspiel von Neonazismus, Pädagogik und Geschlecht mit pädagogischen Praxen in Beziehung zu setzen. Mitherausgeber Andreas Hechler spricht mit Judith Goetz über rechte Wortergreifungen gegen sexuelle und geschlechtliche Vielfalt und den fehlenden Blick auf Opferperspektiven und Alternativen.

progress: Ihr schreibt in eurem Buch, dass „Neonazismus nur mit ganz bestimmten Männlichkeiten und Weiblichkeiten“ funktioniert. Was ist damit gemeint?
Andreas Hechler: N(eon)azistische Männlichkeiten und Weiblichkeiten sind exklusiv; sie sind idealtypisch weiß, (seit vielen Generationen) deutsch, christlich oder verwurzelt in der germanisch- nordischen Mythologie, gesund, heterosexuell etc. Was also de facto hyperprivilegiert und nur auf eine kleine Minderheit überhaupt zutreffen kann, ist nach neonazistischer Lesart „normal“.

Darüber hinaus stehen diese Konstruktionen im Dienst einer größeren Sache. Hier greift unter anderem eine vergeschlechtlichte Arbeitsteilung, die Frauen und Männern innerhalb der „Volksgemeinschaft“ klar definierte Aufgaben und Orte zuteilt. Zu all dem gesellen sich autoritäre und diktatorische Züge, sowohl als strategisches Element zum Erreichen der politischen Ziele als auch ganz prinzipiell in der Vision, wie Gesellschaft organisiert sein soll. Das Zusammenspiel der genannten gesellschaftlichen Positionierungen, Verhaltensweisen und Einstellungsmuster produziert ganz bestimmte Männlichkeiten und Weiblichkeiten. Anders formuliert: Es werden all diejenigen ausgeschlossen, die davon abweichen.

Stärker denn je machen sich Rechte gegen vermeintliche „Frühsexualisierung“ stark. Warum ist sie bedrohlich für den Rechtsextremismus und was kann eine Sexualerziehung im frühen Kindesalter zu einer geschlechterreflektierten Pädagogik gegen Rechts beisteuern?
„Frühsexualisierung“ ist ein schillernder Kampfbegriff, der nicht näher definiert wird. Eine altersangemessene Sexualerziehung trägt ganz maßgeblich dazu bei, Kinder in ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung zu unterstützen und zu einer selbstbestimmten, verantwortlichen und gewaltfreien Sexualität zu befähigen. In dieser Hinsicht wirkt Sexualerziehung gegen Scham bzw. Beschämung, für Kinderrechte und für die freie Entscheidung, wen Menschen lieben wollen und mit wem und wie sie Sex haben möchten. Dagegen läuft das rechte Spektrum Sturm, mit den immer gleichen „Argumenten“ einer angeblich „natürlichen Scham“ und des „Elternrechts“. Zudem stören sie sich ganz maßgeblich daran, dass Kinder sich frei entwickeln können sollen, da das eben auch die Möglichkeit beinhaltet, schwul, lesbisch, bi-/pansexuell, queer, trans*geschlechtlich, nicht-binär, nicht-verheiratet, polyamourös oder was auch immer zu leben oder auch abzutreiben. Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit als Möglichkeiten gleichberechtigt neben viele andere zu stellen, ist ein fundamentaler Angriff auf ein Verständnis, das Sexualität als „natürlich“ fasst und es darüber hinaus auf Fortpflanzung (der „Volksgemeinschaft“) verengt. Der Wunsch nach Klarheit und Eindeutigkeit löst sich durch das Offenlassen von allen geschlechtlichen und sexuellen Möglichkeiten im Nichts auf – die „Volksgemeinschaft“ beginnt zu bröckeln. Ein Beitrag behandelt die Modernisierung homofeindlicher Argumentationen. Was hat sich in aktuellen rechten Debatten gegen sexuelle und geschlechtliche Vielfalt geändert? Der angesprochene Artikel argumentiert, dass Homosexualität nicht mehr als Akt „wider die Natur“ diffamiert und die Existenz der anderen (homosexuellen usw.) Kulturen toleriert wird, solange keine „unethischen“ Vermischungen stattfinden – etwa in dem Sinne, dass Heterosexuelle mit Homosexualität „angesteckt“ werden könnten. Gesellschaftlich marginalisierten Gruppen wird so zwar offiziell eine Daseinsberechtigung zugesprochen, jedoch nur dann, wenn sie sich in die etablierte „Kultur“ integrieren, inklusive dem faktischen Verbot, ihre Interessen auch wirksam auszudrücken.

In Anlehnung an die analytischen Perspektiven eines „Postfeminismus“ können wir vielleicht für bestimmte Spektren von einer „Post-Homofeindlichkeit“ sprechen. Diese bejaht Gleichstellung, hält sie aber für erreicht und warnt vor einer angeblichen Umkehrung ins Gegenteil. Diese gesellschaftlichen Akteur_innen kämpfen gegen ihren Macht- und Privilegienverlust.

Ihr betont, dass sich insbesondere die Sozialpädagogik bis heute an einer verengten Vorstellung deklassierter (männlicher) Jugendlicher orientiert. Welche Probleme ergeben sich durch die Vernachlässigung der Erwachsenen in geschlechterreflektierten pädagogischen Auseinandersetzungen mit Neonazismus?
Die Verengung betrifft nicht nur die Sozialpädagogik, sondern auch mediale Diskurse, institutionelles Handeln etc. Große Teile der Gesellschaft bleiben durch die Projektion des Neonazis als „jungmännlichdeklassiertgewalttätigausm Osten“ unberücksichtigt. Dabei weisen gegenwärtig europaweit Menschen ab dem sechzigsten Lebensjahr – und nicht etwa Jugendliche – die höchsten Zustimmungswerte zu neonazistischen Einstellungsmustern auf. Somit wird die zurzeit zahlenmäßig größte problematische Gruppe von vornherein aus dem Aufmerksamkeitsfeld ausgeblendet.

Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass Kinder in aller Regel viel offener und weniger stereotypisierend als Erwachsene sind, wenn es um Geschlecht geht. Erwachsene geben Kindern und Jugendlichen – häufig unbewusst – ihre Vorstellungen von Geschlecht mit. Das trifft in besonderer Weise diejenigen, die sich nicht geschlechtskonform verhalten. Daher muss auch für Pädagog_innen eine selbstreflexive Auseinandersetzung mit der eigenen geschlechtlichen Sozialisation und daran gekoppelten Vorstellungen von Geschlecht gefördert werden.

Was ist eurer Meinung nach an täter_innenfokussierten Ansätzen in der Neonazismuspräventionsarbeit zu kritisieren?
In der Neonazismusprävention findet sich fast durchgehend ein Täter_innenfokus. Es ist zwar naheliegend, sich ,,den Neonazis“ – ihren Taten, Strukturen und Ideologien – zuzuwenden. Verloren gehen hingegen zwei andere Ebenen, die für eine Präventionsarbeit von großer Bedeutung sind: Einerseits fehlt der Blick auf Menschen, die von Neonazis real oder potenziell angegriffen werden, in täglicher Angst vor Bedrohungen leben und in ihrem Aktions- und Handlungsradius stark eingeschränkt sind. Wird ihre Perspektive nicht wahrgenommen, werden ihre Verletzungen unsichtbar gemacht mit der Folge, dass Diskriminierungen reproduziert und Gewöhnungseffekte in Kauf genommen werden. In einer solchen Neonazismusprävention ändert sich für die Diskriminierten überhaupt nichts. Ein erfolgreicher Kampf muss aber daran gemessen werden, ob sich real etwas für diskriminierte Gruppen verbessert hat. Andererseits fehlt der notwendige Blick auf Alternativen.

Wie könnten und sollten derartige Alternativen aussehen?
Hierzu gehört insbesondere die Stärkung nicht-neonazistischer, antifaschistischer, nicht- und antirassistischer sowie queerer Lebenswelten und Jugendkulturen. Auch das Einüben nicht-diskriminierender Verhaltensweisen, demokratischer Interessenvertretungen und Konfliktlösungsstrategien zählen dazu. Ohne diese bringt auch die beste Präventionsarbeit nichts. Neonazismusprävention ist kein Selbstzweck, sondern Teil eines gesamtgesellschaftlichen Demokratisierungsprozesses.

Zu einer erfolgreichen Neonazismusprävention gehören drei Ebenen und eine Fokusverschiebung: An erster Stelle stehen der Schutz, die Unterstützung und das Empowerment derjenigen, die von Neonazis real oder potenziell bedroht werden. An zweiter Stelle stehen der Aufbau und die Unterstützung von Alternativen zum Neonazismus. An dritter Stelle steht die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit Neonazis und rechts orientierten Kindern und Jugendlichen.

Für die Pädagogik gilt es, für diese drei Ebenen zielgruppenspezifische Angebote bereitzustellen. Da die Arbeit mit Täter_innen sowohl der Schutzverpflichtung gegenüber Opfern und Diskriminierten als auch einer Stärkung von Alternativen zuwiderläuft, sollten nicht die selben Personen und Institutionen alle drei Ebenen gleichzeitig bespielen.

Pädagog_innen stecken in dem Dilemma, einerseits Ansprüche pädagogischer Unterstützung in der Arbeit mit rechtsaffinen Jugendlichen zu verfolgen und andererseits wirkungsvolle Arbeit gegen rechtsextreme Orientierungen zu leisten. Wie könnte das gelöst werden?
Ich finde, dass Michaela Köttig in ihrem Buchbeitrag auf der Grundlage ihrer eigenen pädagogischen Arbeit in einer rechten Mädchenclique viele wertvolle Impulse liefert. Das Dilemma lässt sich meines Erachtens nicht auflösen, aber es können Rahmenbedingungen für einen guten Umgang geschaffen werden. Dazu gehören unter anderem ein guter Personalschlüssel, zeitlich fest eingeplante und bezahlte Reflexionsräume (Reflexion, Intervision, fachkundige Supervision), realistisch erfüllbare Anforderungen, finanzielle und räumliche Ressourcen, eine Ausbildung, in der die kritische Auseinandersetzung mit Geschlecht und Neonazismus Teil des Curriculums ist, regelmäßige Fort- und Weiterbildungen, die Möglichkeit, bei Bedarf Hilfe von außen zu holen und angemessene Erholungszeiten.

Eine geschlechterreflektierte Pädagogik gegen Rechts kann derzeit nicht gut gemacht werden, wenn Ressourcen dafür schlicht nicht vorhanden sind. Das hat nichts mit persönlichem Scheitern zu tun; die Haltung mag noch so toll, das Wissen um Geschlecht und Neonazismus noch so profund, die Methodik ausgefeilt sein – wenn man* drei Jugendclubs parallel als einzige_r Sozialarbeiter_in betreuen muss, wie es in mehreren Bundesländern der Fall ist, wird all das nicht viel helfen. Es braucht bessere Arbeitsbedingungen für eine erfolgreiche Arbeit.

Judith Goetz ist Mitglied der Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit und studiert Politikwissenschaften im Doktorat an der Uni Wien.

„Wer nicht hüpft, der ist ein …“

  • 16.07.2014, 10:26

In Zusammenhang mit Sport werden exkludierende Ideologien verbreitet. progress nimmt den Antisemitismus im österreichischen Fußball unter die Lupe.

In Zusammenhang mit Sport werden exkludierende Ideologien verbreitet. progress nimmt den Antisemitismus im österreichischen Fußball unter die Lupe.

In der medialen Rezeption von Fußball steht oft die nostalgische Verklärung von Fußballlegenden, Vereinen oder einzelnen Spielen im Vordergrund. Eine kritische Hinterfragung der antisemitischen Auswüchse dieser Sportart wird dabei meist verunmöglicht. Zwar verweisen manche Stimmen neben der Kommerzialisierung des Fußballs auch auf Problematiken wie Antisemitismus und Rassismus auf den Tribünen. Aber selbst ihnen fehlt die theoretische Einbettung von einzelnen Tatsachenberichten. Das Wesen des Antisemitismus bleibt somit meist unerkannt und seine Ursprünge bleiben unhinterfragt.

Antisemitismus wird in der Fußballliteratur oft als eine mögliche Form des Rassismus abgetan und nicht eigenständig behandelt. Dieser Zugang spiegelt sich leider auch häufig in der antidiskriminatorischen Fanarbeit oder in Fairplay-Kampagnen wider. So wird Antisemitismus oft nur nach entsprechenden Vorfällen von Seiten der Spieler oder Fans explizit zum Thema gemacht und eigenständige Projekte zur Sensibilisierung und Prävention stehen bis heute aus.

Rassismus und Antisemitismus sind jedoch in ihrem Wesen und ihren Erscheinungsformen grundverschieden: Der Hass auf Juden und Jüdinnen richtet sich gegen ihre imaginierte Allmacht, wohingegen sich der Rassismus gegen die jeweilige Ohnmacht der rassistisch markierten „Anderen“ wendet. Gerade auch weil Antisemitismus im Fußball nicht immer so deutlich auftritt, aber dennoch latent vorhanden und tief verankert ist, wäre die Auseinandersetzung mit dem Phänomen von besonderer Wichtigkeit.

Wir-Identitäten. Im Fußball entsteht durch gemeinsam erlebte Siegund Niederlageszenarien ein regional bis national verortetes Gruppenbewusstsein. Unter Fans stehen meist Werte wie Zugehörigkeit, die Treue gegenüber einer Mannschaft sowie die KameradInnenschaft untereinander im Mittelpunkt. Der Historiker Michael John beschreibt Fußball als „ritualisiertes Kampfspiel mit stark hierarchischem Charakter“. Die dabei verstärkte Gruppenidentität kann dazu führen, dass der sportliche Gegner als realexistierender Feind wahrgenommen wird. Dabei entsteht ein kollektives Wir, das der Volksgemeinschaft nicht unähnlich ist und zur starken Identifizierung, auch durch Symbole wie zum Beispiel Fahnen, Kappen und Schals, einlädt. Fußballspiele können durch ihre Funktion als Ventil zur Freilassung von Aggressionen „potentielle Krisenherde“ darstellen, die ein gewisses Machtinteresse transportieren. Auf diese Weise vermischen sich soziale mit sportlichen Werten, die ausgehend von bestimmten Ideologien vorbestimmt sind. So ist auch die Affinität rechtsextremer Gruppierungen zum Fußball nicht neu und gründet auf den angesprochenen Wertvorstellungen bestimmter Fanszenen, wie der Betonung von KameradInnenschaft sowie nationalistischen, fremdenfeindlichen, rassistischen und antisemitischen Orientierungen.

Antisemitismus ohne Juden. Antisemitische Sprüche wie „Scheiß Juden“ oder „Wer nicht hüpft, der ist ein Jude!“ gehören bei Spielen gegen israelische Mannschaften zum rechtsextremen Fußballalltag. Rechtsextremes Gedankengut wird zudem über Symboliken wie Reichkriegsfahnen und Keltenkreuze oder über NS-verharmlosende Botschaften wie Hitler-Grüße zum Ausdruck gebracht. Dass Antisemitismus aber nicht auf real existierende Juden und Jüdinnen angewiesen ist, zeigt sich in Österreich beispielsweise in den Auseinandersetzungen der beiden Wiener Fußballklubs Austria (FAK) und SK Rapid. Da sich ersterer historisch gesehen aus bürgerlichen und jüdischen Gesellschaftsschichten zusammensetzte, sehen sich Rapid-Fans trotz der Tatsache, dass es in Österreich kaum bis keine SpitzensportlerInnen jüdischer Herkunft gibt, noch heute veranlasst, mit antisemitischen Parolen gegen die Austria anzutreten. Im August 2004 war auf einer Tribüne des Heimstadions der Austria der antisemitische Schriftzug „Franz Strohsack-Synagoge“ zu lesen, in Anspielung auf den Besitzer des Magna-Konzerns und ehemaligen Präsidenten der Austria, Frank Stronach. Bis heute finden sich rund um das Rapid-Stadion in Hütteldorf Davidstern-Sprayereien, verziert mit den Buchstaben FAK. Auch in den Reihen der Fans des Linzer Athletik- Sport-Klub (LASK) war 2007 ein Transparent mit der Aufschrift „Schalom“ zu sehen und Sprechchöre wie „Ihr seid nur ein – Judenverein“ waren zu hören. Bei einem Bundesligaauswärtsspiel 2009 gegen die Austria im Horr-Stadion wurden Parolen wie „Juden Wien, Juden Wien“ skandiert.

Judenfeindliche, antisemitische Ausdrucksformen zielen durch die mit antisemitischen Stereotypen verbundenen Konnotationen auf die prinzipielle Abwertung der gegnerischen Mannschaft oder der Schiedsrichter ab. Der Antisemitismus ist also auch als ein System von Welterklärungsmustern zu verstehen, in welchem Juden und Jüdinnen als Projektionsfläche für die eigene Paranoia dienen. Auch im Fußball zeigt sich die tiefgehende gesellschaftliche Verankerung der Ablehnung und Abwertung von allem, was als „jüdisch“ gilt.

Neonazis im Stadion. Fußballfans sind auch immer wieder Anwerbeversuchen durch Neonazis ausgesetzt, die Fußballstadien dazu nutzen, ihre Parolen zu platzieren. Antisemitisch motivierte Aktionen waren beispielsweise bei den Fans des Wiener Klubs Rapid insbesondere ab den 1980ern wieder verstärkt anzutreffen, unter anderem weil der international bekannte Holocaustleugner Gottfried Küssel begonnen hatte, im Rapid-Stadion Nachwuchs zu rekrutieren.

Aber auch die Austria hat seit einiger Zeit selbst ein massives „Neonaziproblem“. Insbesondere der rechtsextreme, inzwischen ausgeschlossene Fanclub Unsterblich fungiert seit einigen Jahren als Sammelbecken für Neonazis. Nicht nur Sprüche wie „Rassist, Faschist, Hooligan“ oder „Zick-zack Zigeunerpack“ sollen zu ihrem Standardrepertoire gehören, bei einem Europa League-Spiel gegen die baskische Mannschaft Athletic Bilbao waren neben einer Reichskriegsfahne auch Transparente mit dem Spruch „Viva Franco“ zu sehen. Bereits zuvor war der Austria-Fanclub Bull Dogs, der selbst das Keltenkreuz in seinem Logo hat, durch einschlägige Fanartikel in den Farben der Reichskriegsflagge aufgefallen.

Judith Goetz ist Literatur- und Politikwissenschafterin und Mitglied der Forschungsgruppe „Ideologien und Politiken der Ungleichheit“ (www.fipu.at).

Literaturtipps:
Horak, Roman/Reiter, Wolfgang/ Stocker, Kurt (Hg.): Ein Spiel dauert länger als 90 Minuten, Junius, Hamburg 1988.
Michael John: Kriege im Stadion. Bemerkungen zu Fußball und Nationalismus; in: Schulze-Marmeling, Dietrich (Hg.): Der gezähmte Fußball. Zur Geschichte eines subversiven Sports; Göttingen 1992.

„Ein Monster namens Europa“

  • 27.05.2014, 12:55

Europas rechte und rechtsextreme Parteien wollen ein neues Wahlbündnis gründen. Ist die Angst vor einem EU-Parlament der EU-KritikerInnen gerechtfertigt?

Europas rechte und rechtsextreme Parteien wollen ein neues Wahlbündnis gründen. Ist die Angst vor einem EU-Parlament der EU-KritikerInnen gerechtfertigt?

Seit Ende letzten Jahres wird in der Berichterstattung über die kommenden EU-Wahlen immer wieder die Befürchtung eines beträchtlichen Stimmenzuwachses für rechtsextreme Parteien geäußert. Das Potential der rechten und rechtsextremen Parteien, Wähler_innenstimmen für sich zu gewinnen, wird dabei oft überschätzt. Allerdings wurden deren Programmatiken und Forderungen mittlerweile von Parteien der Mitte teilweise übernommen und umgesetzt.

Geeinte Untergangsphantasien. Rund 380 Millionen Stimmberechtigte können von 22. bis 25. Mai über die neue Zusammensetzung des Europaparlaments entscheiden. Aktuellen Umfragen zufolge werden rechte und rechtsextreme Parteien aus 13 Mitgliedstaaten (wieder) ins Parlament ein- ziehen. Diese eint vor allem ihre EU- und eurokritische beziehungsweise -feindliche Haltung sowie ihr/ ein antimuslimischer Rassismus. Zentrale Themen dieser Parteien sind demnach nicht nur die EU samt ihrer Bürokratie, „Bonzen“ und Rettungspakete für „die faulen Südländer“, sondern vor allem auch die Mobilisierung gegen das Feindbild „Islam“, die Forderung nach einem „Einwanderungsstopp“ sowie Hetze gegen andere Minderheiten wie Roma oder homosexuelle Menschen. Insbesondere der in den Parteien propagierte Nationalismus mitsamt Phantasien vom Untergang des „christlichen Abendlands“ verfestigen sich in einer Ausgrenzungsideologie gegenüber allen vermeintlich „Anderen“ oder „Fremden“.

Der große Widerspruch: Diese Parteien, die aktuell mit 55 Abgeordneten im EU-Parlament vertreten sind, geben sich europakritisch oder gar EU-feindlich, trotzdem wollen sie ins EU-Parlament. Zu verlockend scheint die Möglichkeit, Einfluss auf die Gesetzgebung zu nehmen sowie bei der Geldvergabe berücksichtigt zu werden. Kaum verwunderlich also, dass VertreterInnen europäischer rechtsextremer Parteien erneut einen Versuch starteten, ein Bündnis der Gleichgesinnten, die Europäische Allianz für Freiheit (EAF) zu gründen. Um eine Fraktion zu bilden, die finanzielle Zuwendungen bekommt, benötigt ein solches Bündnis nämlich mindestens 25 Abgeordnete aus sieben Ländern.

Rechtsextreme Allianzen. Bereits im November 2013 trafen sich die FPÖ, der französische Front National (FN), die italienische Lega Nord (LN), der belgische Vlaams Belang (VB), die Schwedendemokraten (SD) sowie die slowakische Nationalpartei (SNS) in Wien um ein rechtes beziehungsweise rechtsextremes Wahlbündnis zu beschließen. In einem gemeinsamen Kommuniqué wird als Ziel „die Bewahrung der kulturellen Identitäten der europäischen Völker“ genannt, „Masseneinwanderung und eine Islamisierung Europas“ gelte es zu verhindern. Wenngleich Geert Wilders, Vorsitzender der niederländischen Partei für die Freiheit (PVV), bei der Zusammenkunft in Wien nicht vertreten war, soll auch seine Partei mit an Bord sein. Bisherige Bündnisversuche der Europa-Rechten waren aufgrund von internen politischen Differenzen gescheitert. So führte beispielsweise der Austritt der Abgeordneten der Groß-Rumänien-Partei nach antiziganistischen Äußerungen von Alessandra Mussolini 2007 zum Ende der rechten Fraktion Identität, Tradition, Souveränität (ITS) im EU-Parlament. Auch nach den jüngsten rassistischen Aussagen von Andreas Mölzer, der inzwischen als Spitzenkandidat der FPÖ zurück- getreten ist, scheint das Bündnis erneut zu wackeln. Nicht nur Marine Le Pen, Vorsitzende des FN, auch die SD haben angedroht aus dem Bündnis auszusteigen, sollte Mölzer im Vorstand bleiben. Weitere Differenzen ergeben sich darüber hinausmit Parteien wie der PVV. Geert Wilders sticht nicht nur als „Islamkritiker“ hervor, weil er den Koran als „faschistisches Buch“ bezeichnet hat und gegen den „Tsunami der Islamisierung“ vorgehen möchte. Er hat sich in der Vergangenheit öfters pro-israelisch und offen gegenüber der Ausweitung von Homosexuellen-Rechten gezeigt – ein Widerspruch zum Antisemitismus und der Homophobie der meisten anderen Parteien. Die Heterogenität der involvierten Parteien sowie ihr nationalistischer Charakter dürften das geplante Bündnis zusätzlich destabilisieren.

KrisengewInnerinnen? Mitte März 2014 widmete sich die Konferenz Europa auf der Kippe? der Bundeszentrale für politische Bildung in Köln dem „Rechtspopulismus und Rechtsextremismus im Vorfeld der Europawahlen“. Im Rahmen des Eröffnungsvortrags analysierte der Politikwissenschaftler Cas Mudde die zwei Hauptbotschaften der Berichterstattung über die Europa-Wahlen: „Die Wirtschaftskrise hat zum Aufstieg von Rechtsaußen geführt, und die Rechtsaußenparteien werden bei den Europawahlen im Mai 2014 große Stimmenzuwächse erzielen.“ Trotz des breiten diesbezüglichen Medienkonsenses hält er den ersten Punkt für faktisch falsch und den zweiten für höchst unwahrscheinlich. Wirtschaftskrisen hätten in den seltensten Fällen zu Wahlerfolgen für rechtsextreme Parteien geführt; dies sei auch aktuell nur in Griechenland der Fall. In anderen europäischen Krisenländern seien keine vergleichbaren Tendenzen zu erkennen. Stattdessen würden Rechtsextreme gerade in Ländern, die wenig von der Krise betroffen sind, Erfolge feiern. Zudem prognostiziert Mudde der extremen Rechten im Europaparlament lediglich sechs Prozent der Sitze. Da eine Zusammenarbeit mit linken EU-KritikerInnen unwahrscheinlich bleibt, bleibe die Mehrheit nach wie vor bei pro-europäischen Kräften.

Damit versucht Mudde Übertreibungen in Bezug auf die Gefahr rechtsextremer Parteien entgegenzuwirken, verharmlost diese jedoch auch, da rechtsextremes Gedankengut keineswegs ein gesellschaftliches Randphänomen darstellt. Der gesellschaftliche Rechtsruck, der sich beispielsweise in weit verbreitetem Rassismus und Antiziganismus äußert, findet in seinen Ausführungen keine Erwähnung. Dieser lässt sich nicht ausschließlich an Wahlerfolgen messen, schließlich sind es in den wenigsten Ländern rechtsextreme Parteien gewesen, die Asylgesetze verschärft haben oder gegen Roma vorgehen. Parteien der Mitte haben die Forderungen rechtsextremer Parteien längst in ihre Politiken aufgenommen. Auch dafür, welche Gewalt von Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus und Homophobie ausgeht, herrscht kaum Bewusstsein. Gerade die tiefe Verankerung dieser Ideologien in der Mitte der Gesellschaft sollte endlich im öffentlichen Diskurs thematisiert werden – ohne dabei die Gefahr, die rechtsextreme Parteien darstellen, zu verkennen.

 

Judith Goetz ist Mitglied der Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit (www.fipu.at) und studiert Politikwissenschaft im Doktorat an der Uni Wien.

Foto: Front National cc-by Blandine Le Cain

„Wer vom Rassismus nicht reden will..."

  • 31.10.2013, 19:49

Die Politikwissenschaterin Judith Goetz hat das Buch "NSU Terror. Ermittlungen am rechten Abgrund" rezensiert.

Seit der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) und seine rassistisch motivierten Morde an mindestens zehn Menschen bekannt wurden, sind einige Bücher über das deutsche Neonazi-Trio erschienen. Im Vordergrund der teils sensationsorientierten Publikationen steht dabei vor allem, (biographische) Erklärungen für das rechtsextreme Engagement der Beteiligten zu liefern oder das Versagen des Verfassungsschutzes aufzuzeigen. Der kürzlich von Jasmin Siri und Imke Schmincke herausgegebene Sammelband nimmt hingegen das „Erstaunen“ der Öffentlichkeit über die Morde zum Anlass, den damit verbundenen politischen Diskurs zu analysieren. In der in vier Abschnitte unterteilten Publikation findet sich ein „Mosaik aus Zugängen und Perspektiven“, die einen facettenreichen Blick auf bislang wenig diskutierte Fragen ermöglichen. Zu den AutorInnen der teils wissenschaftlichen, teils journalistischen, aber auch lyrischen Beiträge und Interviews zählen neben ExpertInnen auch ein Mitglied des NSU-Ermittlungsausschusses und die Ehefrau eines vom NSU ermordeten Mannes.

Mehrere Beiträge richten den Blick auf gesellschaftlich- politische Kontexte, „die die Bedingungen für das Entstehen der Ereignisse bereitgestellt haben“. Manuela Bojadžijev beispielsweise zeigt auf, dass Alltagsrassismus und institutioneller Rassismus in staatlichen Apparaten wie der Polizei, in den Diskursen um die Morde verleugnet und ausgespart bleiben. In lediglich 30 der von ihr analysierten Texte aus deutschen Medien kam der Begriff Rassismus überhaupt vor. In weiteren medienanalytischen Texten werden verbreitete Bilder wie „Brauner Osten“, Geschlechterkonstruktionen oder das dominierende Extremismuskonzept umfassend in Frage gestellt. In Bezug auf letzteres wird aufgezeigt, dass es „sich in politischen und in medialen genauso wie in alltäglichen Debatten verselbstständigt“ und bereits großes „Unheil“ in den Diskussionen rund um Rechtsextremismus angerichtet hat, obwohl es erst seit wenigen Jahren diskutiert wird.

Insgesamt leistet der Sammelband einen profunden, vielseitigen Beitrag zur Auseinandersetzung mit den NSU-Morden, der weit über die bisher geführten Diskussionen hinausgeht und längst notwendige Denkanstöße liefert. Da jedoch der Prozess gegen Beate Zschäpe noch nicht annähernd abgeschlossen ist, müssen auch dieses Werk und seine Erkenntnisse vorerst als Zwischenbilanz gewertet werden.

 

Imke Schmincke und Jasmin Siri (Hrg. innen) (2013): NSU-Terror. Ermittlungen am rechten Abgrund. Ereignis. Kontexte, Diskurse, Transcript-Verlag.

 

Judith Goetz studiert Politikwissenschaft im Doktorat an der Uni Wien.

 

 

 

Gangster Girls als Expertinnen des Strafvollzugs

  • 27.09.2012, 02:21

In dem außergewöhnlichen Dokumentarfilm Gangster Girls (2008), der während des Gefängnistheaterprojekts Medea zum Trotz mit Häftlingen aus dem Frauengefängnis Schwarzau sowie der Jugendstrafanstalt Gerasdorf entstand, wird ein vielschichtiges Bild der Institution Gefängnis gezeigt.

In dem außergewöhnlichen Dokumentarfilm Gangster Girls (2008), der während des Gefängnistheaterprojekts Medea zum Trotz mit Häftlingen aus dem Frauengefängnis Schwarzau sowie der Jugendstrafanstalt Gerasdorf entstand, wird ein vielschichtiges Bild der Institution Gefängnis gezeigt. Die moderne Adaption des Mythos der Außenseiterin, Kämpferin und Kindsmörderin Medea ist an die wahren Geschichten der Insassinnen angelehnt, die sich selbst in Szene setzen, um diese Geschichten, aber auch vom Gefängnisalltag zu erzählen. Kritik am Strafvollzug steht dabei nicht explizit im Vordergrund, sondern verdeutlicht sich zwischen den Bildern selbst. Im Interview spricht die Regisseurin Tina Leisch über den Freiraum, den die Mitwirkenden für sich nutzen konnten und darüber, was aus den Protagonistinnen geworden ist.

PROGRESS: Das Theaterprojekt bot Freiraum für die Schauspielerinnen. Wie konnten die jungen Frauen diesen Raum für sich nutzen?

TINA LEISCH: Im Gefängnis gibt es für die Gefangenen zwei Regelsysteme, denen sie gleichzeitig unterworfen sind, deren Anforderungen sich aber diametral widersprechen. Zum einen das Reglement der Anstalt, welches Unterordnung, Gehorsam, Anpassung und Reue vorsieht, zum anderen das Regelsystem der Häftlingsgemeinschaft, das von Gefängnis zu Gefängnis und von Gruppe zu Gruppe anders ist, aber in dem man die entgegengesetzten Verhaltensweisen zeigen muss, um sozialen Status unter den Mitgefangenen zu erlangen. Das produziert einen Doublebind, der kaum Raum lässt für eigensinnige, eigenständige Entwicklung und ist einer der Mechanismen, durch die Gefängnisse Kriminalität und Kriminelle produzieren. Theater zu spielen schafft da einen Freiraum, in dem Kommunikationen möglich sind, die sich keinem der beiden Reglements unterwerfen.

Inwiefern ist das Gefängnis selbst ein Thema des Films?

Wir hatten uns von Anfang an dafür entschieden, davon auszugehen, dass die ExpertInnen dafür, was Gefängnis mit den Menschen macht, die Gefangenen sind; dass wir also ausschließlich ihnen das Wort und das Bild erteilen möchten. Wir wollten wissen, warum so wenige versuchen auszubrechen, wie das Zuckerbrot-und-Peitsche-System aus Versprechen von Vollzugslockerung und vorzeitiger Entlassung bzw. Strafen von Ausgangssperre bis Absonderung funktioniert.

Was wurde aus den Protagonistinnen, mit denen du zusammengarbeitet hast?

Zum Glück waren die meisten schon zur Premiere des Filmes entlassen. Inzwischen sitzt nur noch eine, die demnächst entlassen wird. Eine suchtkranke Frau ist erneut straffällig geworden und wartet nun in U-Haft auf ihren Prozess. Wir haben zu fast allen Kontakt, telefonieren ab und zu, einige wenden sich immer wieder an uns, wenn sie Rat und Hilfe brauchen. Mein Eindruck ist, dass für die meisten die Teilnahme am Film und die Teilnahme an Podiumsdiskussionen und Debatten als Expertinnen für Strafvollzug eine sehr positive Wirkung hatte in der harten ersten Zeit nach der Entlassung.

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