Elisabeth Schepe

Eine zerrissene Generation

  • 08.03.2016, 12:58
Polnische Studierende zwischen Patriotismus, Protest, Gehen und Bleiben inmitten einer gespaltenen Gesellschaft.

Polnische Studierende zwischen Patriotismus, Protest, Gehen und Bleiben inmitten einer gespaltenen Gesellschaft.

Was ist eigentlich in Polen los? Seit November regiert dort die „Prawo i Sprawiedliwość“ (PiS), auf Deutsch „Recht und Gerechtigkeit“, die irgendwo zwischen christlichem Konservatismus und Nationalismus zu verorten ist. Ihr Wahlsieg – die PiS erreichte 37,58 Prozent – verdeutlicht den aktuellen Rechtsruck im Land. Einige der Reformen, die von der neuen Regierung beschlossen wurden, werden als antidemokratisch angesehen. Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, spricht von „Staatsstreich-Charakter“, der ehemalige Solidarność-Aktivist und Ex-Präsident Lech Wałęsa warnt gar vor einem „Bürgerkrieg“ angesichts der Spaltung der Gesellschaft. Schlagworte wie diese haben in den letzten Monaten für viel Aufmerksamkeit in Europa gesorgt. Wir haben versucht hinter die großen Worte zu blicken und polnische Studierende um ihre Meinung zur aktuellen politischen und gesellschaftlichen Lage sowie deren Auswirkungen auf die Unis gebeten.

Wählerinnen. Konrad hat im vergangenen Oktober PiS gewählt. Er ist 31, macht einen PhD auf der Wirtschaftsuniversität Warschau und geht jeden Sonntag in die Kirche. Konrad spricht viel über Werte, Familie und Patriotismus. „Nationalismus heißt in Polen Patriotismus. Und der hat hier keinen so negativen Beigeschmack wie in Deutschland oder Österreich. Es bedeutet, für sein Land zu sorgen und schließt dabei niemanden aus“, sagt er. Mit der PiS als regierende Partei erwartet er tatsächliche Reformen, die die Solidarität im Land erhöhen und die Korruption und Ineffizienz der staatlichen Institutionen eindämmen sollen. Auch Förderungen für Familien wünscht er sich: „Ich hoffe, es wird bald Geld für junge Paare, die sich Kinder wünschen, geben. Polen braucht neue Generationen, aber Kinder sind teuer.“ Der 23-jährige Piotr bekennt sich dreihundert Kilometer weiter südlich, in Krakau, zum entgegengesetzten politischen Flügel. An der Jagellonian Universität studiert er Interdisziplinäre Geisteswissenschaften und ist Mitglied der sozialdemokratisch-linkssozialistischen Partei „Razem“, die im Mai 2015 gegründet wurde und unter ihren AnhängerInnen viele Studierende versammelt. „Als ein Geistes- und Sozialwissenschaftsstudent in einer Großstadt bin ich von einem ziemlich unrepräsentativen Teil der Gesellschaft umgeben“, sagt Piotr: „Und trotzdem kann ich eine wachsende Beliebtheit der nationalistischen historischen Erzählung beobachten – vor allem unter den weniger privilegierten Studierenden. Sie ist für viele die einzige Alternative zur neoliberalen europäischen Erfolgsstory.“

Umfragen des Meinungsforschungsinstituts CBOS zeigen, dass sich deutlich mehr junge Menschen seit 2014 politisch rechts verorten. In den ersten drei Quartalen des Jahres 2015 beschrieb ein Drittel der 18- bis 24-Jährigen ihre politische Einstellung als rechts. Eine IPSOS-Umfrage am Wahltag im Oktober 2015 bestätigt dieses Phänomen: Die PiS ist unter den 18–29-Jährigen zwar am schwächsten, konnte aber dennoch knappe 26 Prozent ihrer Stimmen erreichen. Auch andere Parteien der rechten politischen Sphäre konnten in der Altersgruppe punkten: Janusz Korwin- Mikke, der als exzentrischer EU-Skeptiker des rechten Randes gilt, ist mit 16,7 Prozent Stimmanteil in der jungen Generation am beliebtesten. Seine Partei befürwortet die Einführung der Todesstrafe und der Monarchie. „Die jungen Leute wollen etwas Neues, sie haben die alten Parteien satt“, sagt Adrianna. Sie ist 22 Jahre alt, lebt in Szczecin an der Grenze zu Deutschland und schreibt an ihrer Bachelorarbeit in Slawistik. Den PiS-Sieg verbindet sie mit der starken Position der Kirche im Land: „Viele junge Menschen sind konservative KatholikInnen. In der Kirche lassen sie sich von der PiS überzeugen.“ Mit ihren Freundinnen hat sie vor den Wahlen noch über einen PiS-Sieg gescherzt. Heute tut sie das nicht mehr – der Witz ist Realität geworden.

Förderungen. Die PiS hat im Parlament nun die absolute Mehrheit, die Opposition damit kaum Spielraum. Die neuen Wahlsieger werden von Jarosław Kaczyński gesteuert, dem Parteigründer und ehemaligen Ministerpräsidenten des Landes. Im Hintergrund fungiert er als Chefideologe und Fadenzieher der Regierung. Diese muss sich gegenwärtig aufgrund von verabschiedeten Gesetzen, die den Verfassungsgerichtshof, die Staatsanwaltschaft sowie den öffentlichrechtlichen Rundfunk betreffen, dem Vorwurf der schleichenden Entdemokratisierung stellen. Konrad sieht darin kein Problem: „Die vorher regierende Partei (Anm.: die liberal-konservative „Platforma Obywatelska“) hatte noch viel zu viel Einfluss auf die Medien, man musste etwas ändern, um das Land überhaupt regieren zu können.“ KritikerInnen sehen die rechtlichen Änderungen jedoch als Versuch, den Parteiwillen in diversen staatlichen Institutionen und Einflusssphären durchzusetzen. Die Einflussnahme geht bereits über Gerichtshöfe und Rundfunk hinaus: Der Kulturminister versuchte Ende November, die Premiere eines Jelinek-Stücks aufgrund von vermeintlich pornographischen Inhalten zu verhindern.

Auf die Hochschulen hat der Regierungswechsel noch keine rechtlichen Auswirkungen. Die polnischen Unis haben seit 1990 einen von staatlichen Weisungen unabhängigen Status. „WissenschaftlerInnen und ProfessorInnen sind trotzdem angreifbar – und zwar durch Förderungen, die der Staat vergibt. Es besteht die Gefahr, dass die Finanzierung für Journals oder Studienprogramme, die nicht der Ideologie der regierenden Partei entsprechen, wie zum Beispiel Gender Studies, abgedreht werden könnte“, sagt Piotr.

Über selektivere Förderungen macht sich Konrad keine Sorgen. Er möchte selbst eine Laufbahn an der Universität einschlagen. Von der PiS erwartet er dafür ein „offeneres System“, wie er sagt. „Wir haben viele ProfessorInnen, die fachlich nicht sehr gut sind, aber im alten kommunistischen System eingesetzt wurden. Es braucht einen Generationenwechsel.“

Vertretung. Der Hochschulzugang in Polen ist grundsätzlich kostenlos und unbeschränkt. Es gibt aber Ausnahmen. Zum Beispiel werden beim Verstreichen einer Abgabefrist für Seminararbeiten Gebühren eingezogen. An der Universität in Warschau formierte sich 2015 die Bewegung „Engaged University“, die gegen die Kommerzialisierung der Hochschulbildung protestiert. In Krakau folgte kurze Zeit später eine ähnliche Initiative. Diese Bewegung ist nicht als Reaktion auf die jüngsten politischen Entwicklungen zu sehen, sondern befasst sich vielmehr allgemein mit Studierendenrechten. „Diese Leute nehmen sich Dingen an, die eigentlich Aufgaben der Studierendenvertretung sein sollten“, sagt Piotr: „Die polnischen Bildungsinstitutionen sind völlig apolitisch. Die Studierendenvertretung beschränkt sich auf die Organisation von Ausflügen und Partys. Kritik an Autoritäten fehlt oft.“

Adam Gajek, selbst BWL-Student in Warschau, vertritt die polnische Studierendenvertretung in internationalen Belangen und sieht das anders: „Wir kooperieren mit jeder demokratisch gewählten Regierung, auch mit der aktuellen. Wir streiten nicht über politische Ideologien.“ Die apolitische Ausrichtung betrachtet er als Stärke: „Die polnische Studierendenvertretung ist eine Art Parlament von ExpertInnen, die Erfahrung mit Hochschulthemen haben. All die Themen, die gerade diskutiert werden, haben nichts mit Bildung zu tun. Die Leute erwarten daher auch nicht, dass wir sie kommentieren.“ Adam bemerkt auch abseits der Studierendenvertretung keine Gruppierungen an den Unis, die sich aktuell bei Demos engagieren.

Spaltung. „Es könnte nur die Ruhe vor dem Sturm sein, aber bisher gibt es keinen organisierten Widerstand an den Universitäten. Manche ProfessorInnen und StudentInnen nehmen an Demonstrationen teil, die gehen aber nicht von den Unis aus“ – die Jagellonian Universität in Krakau, über die Piotr hier spricht, ist keine Ausnahme. Auch Adrianna bemerkt unter ihren StudienkollegInnen in Szczecin keine zivilgesellschaftliche Aktivierung. Die aktuelle Regierung hält sie zwar für „verrückt“, Demonstrationen bekommt die 22-Jährige aber nur über Facebook mit. Weder sie, noch ihre FreundInnen sind bisher auf die Straße gegangen. Offener Protest, der sich explizit gegen die neue Regierung richtet, kommt vor allem vom „Komitee zur Verteidigung der Demokratie'“(KOD), das bereits mehrere Großdemonstrationen in polnischen Städten organisiert hat. Demonstriert wird auch von der anderen Seite, den PiS-UnterstützerInnen, die sich im Rahmen von Gegenkundgebungen mit der Regierung solidarisieren. Die Demos der KOD sieht Piotr kritisch. Diese würden lediglich auf formale demokratische Missstände hinweisen, aber tieferliegende soziale Probleme völlig außer Acht lassen.

Die soziale Ungleichheit hat in Polen auch eine regionale Komponente, verdeutlicht durch die Zweiteilung des Landes. Polska A und Polska B stehen für eine tiefe soziale, wirtschaftliche, aber auch politische Spaltung. Vom Aufschwung hat vor allem der westliche Teil profitiert. Das rural geprägte Polska B hinkt wirtschaftlich und strukturell hinterher. Die PiS ist im Osten besonders stark. Auch Konrad, der im Oktober Recht und Gerechtigkeit angekreuzt hat, wurde in Białystok, einer Stadt im äußersten Osten nahe der weißrussischen Grenze, geboren. Polska B kehrte er vor elf Jahren den Rücken, als er für sein Studium nach Warschau zog. Den PiS-Triumph im Osten kann er dennoch nachvollziehen. “Die Menschen haben konservativere Werte als der Rest des Landes, sind mehr an Familie und Land gebunden. Durch das Leben an der Grenze haben sie eine starke lokale Identität entwickelt.“

Unzufriedenheit. Der Rechtsruck, der Polen nicht erst seit den Wahlen im Oktober erfasst hat, entsteht auch aus einer Unzufriedenheit heraus. Nicht alle im Land haben vom Aufschwung und der relativ stabilen wirtschaftlichen Lage profitiert. „Nach dem Ende des Staatssozialismus ging alles sehr schnell. Viele Leute sind plötzlich aufgestiegen, andere haben ihren Job verloren. Die Menschen sehnen sich heute nach Stabilität. Eine der größten Herausforderungen wird es sein, die Emigration zu stoppen. Einige meiner FreundInnen sind schon weggegangen“, sagt Konrad. Ein abgeschlossenes Studium ist noch lange keine Garantie für einen angemessen bezahlten Job. Daher suchen viele junge PolInnen im Ausland eine bessere Lebensgrundlage. Emigration ist allgegenwärtig – vor allem in der jungen Generation. „Die Löhne sind ein Witz“, sagt die Slawistik-Studentin Adrianna. Als Nebenjob arbeitet sie in einer Drogerie in Szczecin und bekommt dafür 7 Zloty die Stunde. Das sind etwa 1,50 Euro. „Es ist nicht gut für junge Leute, hier zu leben“, sagt sie. Adrianna will weg – auch von der „Polit-Talkshow“, wie sie die aktuellen politischen Auseinandersetzungen bezeichnet. Am besten nach Skandinavien. Die polnische Zukunft sieht sie trotz allem optimistisch: „Die junge Generation wird Polen bald übernehmen und das Land zum Besseren verändern.“ Sie selbst wird dann aber wohl nicht mehr dort sein.

Elisabeth Schepe studiert Zeitgeschichte an der Universität Wien.

Einmal Flirten zum Mitnehmen

  • 04.04.2014, 09:46

Wie und warum die neuen Dating-Apps funktionieren und was das über unsere Gesellschaft und die Zukunft des Flirtens aussagt.Wie und warum die neuen Dating-Apps funktionieren und was das über unsere Gesellschaft und die Zukunft des Flirtens aussagt.

Wie und warum die neuen Dating-Apps funktionieren und was das über unsere Gesellschaft und die Zukunft des Flirtens aussagt.

Facebook stirbt. Das kann man heute mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit behaupten. Ob das nun in drei oder zehn Jahren der Fall sein wird, spielt keine Rolle. Fakt ist, dass der jüngste Rettungsversuch des Social Networks die Übernahme von WhatsApp ist. Der Deal droht nun aus Datenschutzgründen zu platzen. Die 19 Milliarden, die Zuckerberg für Whatsapp hinzulegen bereit ist, bestätigen aber: Mobil ist sexy. Das zeigt auch ein Blick auf die Hypes um diverse andere Smartphone-Applikationen wie Instagram, Snapchat, Telegram und Tinder. Besonders letzteres erfreut sich erstklassiger Mundpropaganda. Die Dating-App hat im vergangenen Jahr von L.A. aus einen Siegeszug über den gesamten Globus hingelegt und dabei auch Österreich nicht ausgelassen. Neben ähnlichen Angeboten wie Lovoo, Badoo oder Grindr (die Mutter der Dating-Apps aus der Schwulenszene), ist Tinder der absolute Kassenschlager - würde es was kosten. Ende Jänner war die App laut AppAnnie Ranking auf Platz 1 der meistgeladenen Lifestyle Apps und auf Platz 10 aller geladenen Apps in Österreich. „It’s like real life, but better“, so der Slogan der App, bei dem potenzielle „Matches“ in deiner räumlichen Nähe gesucht werden. Gewünschtes Geschlecht, Alter und maximale Entfernung zum „Match“ werden voreingestellt und schon scannt der Dating-Radar die Umgebung. Da das Ganze mit dem Facebook-Account verbunden ist, sieht man bei der Auslese, die Tinder für einen trifft, Profilfotos, gemeinsame Facebook-Freunde und ein paar Interessensangaben. Ein Wisch nach links bedeutet „Nicht interessiert“, ein Wisch nach rechts „Interessiert“. Erst wenn beide Nutzer sich zufällig gegenseitig „geliked“ haben, werden sie informiert und der Chat freigeschaltet.

 

 

Der Sachbearbeiter. Michael braucht im Schnitt drei Sekunden, um sich zu entscheiden in welche Richtung er ein Foto wischt. Michael ist 35 und gehört damit zu den älteren Usern. Eine amerikanische Studie vom Mai 2013 besagt nämlich, dass mobile Dating-Apps vor allem bei 25- bis 35-Jährigen einschlagen. Michael ist seit einem Jahr auf Tinder. Das Aussortieren der virtuellen Vorschläge ist „wie ein Stapel Akten, den ich wie ein Sachbearbeiter abarbeite“, sagt er. Romantisch klingt das nicht, aber zumindest ehrlich. Michael chattet mit zwei bis drei Frauen pro Woche. Mit 20 Prozent trifft er sich dann auch, vorzugsweise am Wochenende mit Option auf eh schon wissen. Denn einer Beziehung ist er zwar nicht abgeneigt, aber „Luftschlösser bauen sollte man auch nicht.“ Einer der größten Vorteile zum ‚realen Flirten’ - da sind sich Michael und die Tinder-Gründer einig - ist das gegenseitige Liken bevor es überhaupt zur Kommunikation kommt. Dieser Trick eliminiert das Risiko einer Abfuhr. „Die Angst vor Zurückweisung ist eine der größten Ängste der Menschen und eng verknüpft mit der Verlust- und Trennungsangst, die existenzielle Implikationen hat. Eine App, die diese Ängste kontrollieren kann, ist natürlich sehr attraktiv“, sagt Psychologe Dr. Anton Laireiter von der Uni Salzburg. In Michaels Worten: „So abgebrüht kannst’ gar nicht sein, dass dir ein Korb nichts ausmacht.“ Der andere Vorteil, mit dem Tinder sich rühmt, ist die Verknüpfung mit dem Facebook-Account: User könnten sich nicht beliebig als Calvin Klein-Models ausgeben, da sie die Fotos ihres Facebook-Profils verwenden müssen. Doch wer sagt eigentlich, dass auf Facebook nicht geschummelt wird? Auch hierzu hat Michael einschlägige Erfahrungen bei einem Date gemacht: dank Photoshop hatte das Profilbild der Dame nur wenig mit ihrem wirklichen Aussehen zu tun.

Lass dich anschauen. Aber ist es wirklich nur das Äußere, das zählt? Apps wie Tinder, bei denen die kurze Durchsicht einer Handvoll Fotos als Entscheidungsbasis genügt und die virtuelle Kontaktaufnahme bestimmt, suggerieren das. Diese Oberflächlichkeit ist aber nicht (allein) als Auswuchs unserer modernen Selfie-Gesellschaft zu verstehen. Laut Psychologe Dr. Laireiter ist sie ein natürliches Auswahlkriterium des Homo Sapiens: „Die Entscheidung ‚like’ vs. ‚not like’ liegt beim Menschen im Millisekundenbereich – egal ob ein Auto, eine Handtasche oder ein anderer Mensch betrachtet wird. Die ‚rationale Entscheidung’ ist bei uns immer noch deutlich unterentwickelt. Erst im Laufe des Kennenlernprozesses werden die sogenannten inneren Werte und Lebensauffassungen wichtiger.“ Gesichter spielen dabei laut Laireiter eine hohe, aber oft täuschende Rolle: „Das Problem bei Gesichtern ist, dass sie für Präferenzentscheidungen sehr wichtig sind, aber notwendige Informationen wie Habitus, Stimme, Sprache oder Ausdruck noch vorenthalten.“ Ob nun virtuell oder real, die äußere Erscheinung ist nicht nur wichtig für die Partnersuche, sondern auch Objekt eines ständigen Vergleichs (Stichwort: Hot or not). Patricia Groiss, Saferinternet.at-Trainerin für Jugendliche, beobachtet, dass in diesem Zusammenhang unser Selbstbewusstsein nach außen gestiegen und nach innen gesunken ist: „Bisher standen wir immer nur im Vergleich mit Menschen, die wir treffen, durch das Internet vergleichen wir uns mit der ganzen Welt und für viele drängt sich die Frage auf: Warum sollte mich jemand nehmen, wenn’s die anderen auch alle gibt?“ Weil das Tinder-Prinzip also einerseits natürlich und ehrlich, aber andererseits doch etwas einseitig ist, gibt es einige Versuche anderer App-Hersteller, die Tinder-Kritiker_innen einzufangen: Sie nutzen zwar auch die Ortungsfunktion, ‚matchen’ aber aufgrund gemeinsamer Interessen und Lebenseinstellungen. Eine der skurrileren Apps ist Snoopet, bei dem Hundebesitzer verbandelt werden sollen. „Travelling the globe for prince charming“ verspricht wiederum der Radar von Twine Canvas, einer auf Interessen bezogenen, aber noch sehr ausbaufähigen App, bei der die Fotos erst angezeigt werden, wenn beide Seiten einverstanden sind. Schräges Extra: Im Chatfenster werden passend zu den Interessen des virtuellen Gegenübers Eisbrecher-Sätze wie „Do your friends like Quentin Tarantino as well?“ vorgeschlagen.

Darf ich bitten? Zurück zu Tinder: Alex hat die App „nur so zur Gaudi“ heruntergeladen. Ernst genommen habe sie das Ganze nicht, betont die 23-Jährige. Aber egal ob am Handybildschirm oder in der Bar, sie selbst würde nie den ersten Schritt machen: „Frauen erwarten, dass der Mann zuerst schreibt. Das ist beim Fortgehen ja auch so.“ Auch Michael bestätigt das alte Rollenbild: „Von den Frauen kommt nie was. Es bin immer ich der, der ‚Hallo, wie geht’s?’ schreibt.“ Neue Dating-Technologie bedeutet also nicht auch Fortschritt in Sachen Geschlechterklischees. Psychologe Laireiter kann da nur zustimmen: „Auch wenn wir in einer sexuell und gendermäßig liberalen Gesellschaft leben, sind die Geschlechtsrollen beim Dating noch relativ konservativ. Die Frau selektiert, der Mann muss anfangen.“ Was außerdem auffällt, ist die Hemmschwelle, vor allem bei Frauen, zuzugeben auf einer Dating-Plattform zu sein. Aktiv auf der Suche (vor allem nach Sex) zu sein, ist für Männer anscheinend immer noch akzeptabler und natürlicher. Wohl gerade deshalb versucht sich Tinder öffentlich nicht als Dating-Plattform, sondern als soziales Netzwerk darzustellen. Für Alex etwa war die blitzschnelle, simple Installation von Tinder ein Schritt, den sie als genügend unverfänglich empfunden hat – anders als eine Anmeldung bei einer klassischen Partnerbörse.

Ich schau nur Ein weiteres Charakteristikum der App lässt sich also feststellen: Tinder fühlt sich nicht wie eine Dating App an. Und vielleicht ist das ihr großes Erfolgsgeheimnis. 96% der User sollen vor Tinder noch nie eine andere Dating App genutzt haben. Es trauen sich also auch die, die sich normalerweise nicht trauen. „Meet new friends, chat, socialize“ (Badoo), „Tinder is how people meet“, „Express yourself and meet interesting people“ (Twine Canvas) sind Slogans, die jeder beliebigen sozialen Plattform zugeordnet werden könnten. Flirten darf sich also nicht wie Flirten und Dating nicht wie Dating anfühlen. Unverbindlich, praktisch und amüsant soll die Suche, die nicht wie eine Suche wirken soll, sein. Da ist eine Online-Anmeldung bei einer Partnerbörse inklusive psychologischem Text schon viel expliziter. Caroline Erb, Psychologin bei Parship, sieht die Apps daher nicht als Konkurrenz zu klassischen Partnerbörsen. Abgesehen davon, dass die Altersgruppe bei Parship & Co höher ist und die meisten dieser Websites kostenpflichtig sind, haben deren Kunden laut Erb eine andere Herangehensweise: „Bei Parship geht es um langfristige Beziehungen. Die Apps sprechen eher Leute an, die flirten, Leute kennen lernen und vielleicht Affären beginnen wollen.“ Klar kann Mann oder Frau auch über eine App den Menschen fürs Leben kennenlernen. Fakt ist aber laut dem Psychologen Anton Laireiter, dass es in Europa einen deutlichen Trend hin zu mehr unverbindlichen, kürzeren Beziehungen gibt: „Internationale Studien haben herausgefunden, dass vor allem in West- und Zentraleuropa unsichere Bindungsstile in dieser Altergruppe (Anm. bis 35) zunehmen.“

Dating 3.0 Laut der Mobile-Dating Marktstudie 2013 wurden bis zum Januar 2013 in Österreich 972.000 Dating-Apps heruntergeladen. Und das war noch vor Tinders Sprung über den großen Teich. Die Nachfrage ist da, und es ist nur eine Frage der Zeit bis sich andere Technologien zum noch vereinfachteren, noch unkomplizierteren Kennenlernen etablieren und das Handy-Flirten überholen. Die To Go-Mentalität wird wohl bleiben, sei es mit oder ohne Smartphone. Saferinternet.at-Trainerin Patricia Groiss sieht allgemein eine Entwicklung in Richtung Technologie am Körper, sei es Kommunikation von Uhr zu Uhr mithilfe von Smart Watches oder automatisierte Gesichtserkennung. Tinder & Co sind erst der Anfang einer beschleunigten, zweckdienlichen und zwanglosen Tendenz, wenn es um menschliche Begegnungen geht. Ob das hot or not ist, liegt bei jedem/r Einzelnen.

 

Elisabeth Schepe