Vom Wahren, Schönen und Guten

  • 11.12.2014, 12:34

Sechs Annäherungsversuche an unser Dossier-Thema: „Back to the roots - Von der Sehnsucht nach Ursprüngen, Natürlichkeit und Authentischem“.

J-Law is the law

America’s Next Sweetheart: Jennifer Lawrence. Den meisten bekannt in ihrer Rolle als Katniss in der Verfilmung der „Hunger Games“-Trilogie – oder von ihrer Oscar-Annahmerede, die sie prompt mit einem Stolperer und einem Fall auf die Stufen eröffnete. Die 24 Jahre junge Schauspielerin ist wohl das größte Talent, das Hollywood in den letzten Jahren gesehen hat. Spannenderweise wird sie nicht nur für ihre ausgeprägte Verstellungskunst gefeiert, sondern insbesondere auch für ihre unmittelbare Art etwa während Interviews und Red-Carpet-Auftritten. Sie schneidet Grimassen, photobombt, stößt mit Lebendigen und nicht Lebendigem zusammen, spricht größtenteils übers Essen, ist sichtlich nervös, zittert aufgeregt und macht generell viel unladylikes Zeug. Beim Reden über ihre Arbeit gibt sie sich bescheiden, zurückhaltend und ihrer Privilegien bewusst. Klatschspalten und Feuilleton sind sich einig: Das Talent aus Kentucky, das nie auch nur eine Stunde Schauspielunterricht genommen hat, ist die „No. 1 Realness Keeper of American cinema“ (Wired).

Das Tourismus-Paradoxon

Wer auf Reisen geht, möchte oft für die Region, die Kultur oder die Landschaft besonders typische Dinge besichtigen – sei es nun der Trip zum buddhistischen Kloster, der Besuch eines Stierkampfes oder das Besteigen eines Gletschers. Das weiß die „autochthone“ Bevölkerung, die teilweise von Tourismus lebt, und gestaltet daher die Sehenswürdigkeiten besonders zugänglich, interessant und passend für Tourist*innen. Das wiederum verändert, unterläuft und verzerrt naturgemäß die „Authentizität“ der Reiseführer*innen-Schmankerl (die eben ihre Attraktivität ausmachen soll). So kommt es zur Heisenberg’schen Unschärferelation des Tourismus: Das, was die Tourist*innen zu beobachten versuchen, zerstören sie durch ihre eigene Anwesenheit.

Sind die echt?

Als die Bridget-Jones-Darstellerin Renée Zellweger im Oktober zum ersten Mal nach vielen Jahren wieder bei einem größeren Event öffentlich auftrat, überraschte sie mit einem – nun ja – veränderten Antlitz. Die Schauspielerin war gealtert, hatte sich aber wohl auch „unters Messer gelegt“ und war fast nicht mehr als das charakteristische süße Knuffelwangengesicht zu erkennen. Prompt brandete Kritik auf – wie könne sich eins so „verunstalten“? Zellweger ist das aktuellste Beispiel für die Zwickmühle, in der sich Frauen und insbesondere jene, die in der Öffentlichkeit stehen, befinden: Sie sollen möglichst wenig altern, aber auch möglichst wenig nachhelfen. Jung bleiben, ohne an Authentizität zu verlieren. Geschminkt sein, aber bitte möglichst in einem „natürlichen Look“. Einem konstruierten Schönheitsideal ganz genau entsprechen, ohne an sich selbst herumzubasteln. Frauen, die sich für Beauty-OPs entscheiden, werden verarscht, weil ihre Schönheit fabriziert und daher sekundär ist, jene, die sich dagegen entscheiden, werden wegen ihrer Falten kritisiert: You just can’t win.

originalverpackt

Das Wort authentisch geht auf das griechische αὐθεντικός („echt“) beziehungsweise auf das spätlateinische authenticus („verbürgt, zuverlässig“) zurück. Der Begriff „Authentizität“ spielt in vielen Bereichen unterschiedliche Rollen. In der Archäologie bezeichnet er die richtige historische Zuschreibung von Quellen, Artefakten und Fundstücken. Als authentisch gilt etwas, was tatsächlich da herkommt, wo es herzukommen vorgibt. In der Informatik geht es bei Authentizität (authentification) um Überprüfungen, beispielsweise der Identität angegebener Sender*innen oder digitaler Signaturen. In der Fachdidaktik wird unter Authentizität Unterrichtsmaterial verstanden, das nicht extra für die Schule produziert wurde, sondern „aus der echten Welt“ kommt. Die Sozialpsychologie unterscheidet vier Kriterien dafür, dass eine Person sich selbst als authentisch erlebt: Bewusstsein, Ehrlichkeit, Konsequenz und Aufrichtigkeit. Einige Philosoph*innen haben allerdings auch das gesamte Konzept von „Echtheit“ angegriffen – es sei nur ein Konstrukt, „Wahrhaftigkeit“ nur eine Zuschreibung und Authentizität in Wirklichkeit inexistent.

Reality vs. TV

Die allererste Reality-TV-Show war wohl das dänische Format „Nummer 28“, das schon 1991 im Fernsehen lief. Sieben einander zuvor Unbekannte zogen hierbei in das namensgebende Haus in Amsterdam und wurden bei ihren täglichen Aktionen und Interaktionen gefilmt. Die Show, die nur eine Staffel lang lief und recht unbekannt blieb, dürfte die Blaupause für MTVs „The Real World“ sowie „Survivor“ und „Big Brother“ gewesen sein, die dem Genre Reality-TV zum endgültigen Durchbruch verholfen haben. Heute sind vermeintlich realistische Wackelhandkamera-Optik, schlüpfrige Nachtkamera- Einblicke und tränenreiche Video-Beichten nicht mehr aus Fernsehprogrammen wegzudenken. Allerdings: Reality-TV ist nicht real, sondern soll nur (z.B. durch eine rauere Ästhetik) real wirken. Die meisten Formate haben Drehbücher („Scripted Reality“) und sehr genaue Vorstellungen davon, wer was wann zu tun und zu sagen hat.

(un-)verfälscht

Plagiate haben in Kunst, Kultur und Wissenschaft eine lange Tradition. Besondere Medienaufmerksamkeit genießen Plagiatsvorwürfe gegen Politiker*innen, die ihre Dissertationen abgeschrieben haben (sollen). Der bekannteste und am besten dokumentierte Fall ist jener des früheren deutschen Bundesverteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg, der nach der Entdeckung von 23 strafrechtlich relevanten Urheber*innenrechtsverletzungen in seiner Dissertation zurücktrat. Auch Annette Schavan, Bildungs- und Forschungsministerin Deutschlands, legte 2013 ihr Amt nach der Aberkennung des Doktorgrades zurück. Dass auch in Österreich ausgerechnet der ehemalige Wissenschaftsminister Johannes Hahn wegen „schlampigen Zitierens“ kritisiert wurde, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Ein Gutachten ergab, dass 17,2 Prozent der Gesamtzeilenanzahl der Dissertation Hahns abgeschrieben waren; die Universität Wien ließ verlautbaren, dass es sich zwar nicht um ein Plagiat handle, aber dass eine solche Arbeit heute nicht mehr angenommen werden würde. Hahn trat natürlich nicht zurück.

 

Olja Alvir studiert Germanistik und Physik an der Universität Wien.

AutorInnen: Olja Alvir