Sprühtherapie

  • 25.06.2015, 11:12

Graffiti: Vandalismus oder Kunst? Gedankenlose Schmierereien oder ein Stück Jugendkultur? Abseits dieser Debatten ziehen trotzdem Menschen los, die ihre eigenen Ideale verfolgen. progress hat zwei von ihnen bei ihrer Tour durch Wiens Untergrund begleitet.

Graffiti: Vandalismus oder Kunst? Gedankenlose Schmierereien oder ein Stück Jugendkultur? Abseits dieser Debatten ziehen trotzdem Menschen los, die ihre eigenen Ideale verfolgen. progress hat zwei von ihnen bei ihrer Tour durch Wiens Untergrund begleitet.

„Scheiße, nicht cool!", flüstert Dennis"' und hastet zurück, „Nicht cool, nicht cool!“. Er hopst so leise wie möglich über Gleiskörper, aufgetürmte alte Schienen und die gelb ummantelte 750 Volt Starkstromleitung in der Mitte des Tunnels. Dann wieder über Schienen und Schwellen, bis zur gegenüberliegenden Wand. Schwarze Konturen eines mehrere Meter großen Schriftzugs prangen auf ihr, ein Buchstabe ist grau gefüllt, ein anderer zur Hälfte. Eine Männerstimme hallt an den Wänden des stillgelegten U-Bahn-Schachtes wider. Sie klingt entspannt. Dennis greift den Rucksack, der auf den Schwellen steht. Dose für Dose  stopft er hinein. Noch haben die schwarzen Silhouetten die beiden Sprayer nicht bemerkt. Noch haben Dennis und Marco* einen kleinen Vorsprung.

DON’T GIVE UP. Das Gemurmel wird lauter, deutlicher. „In die Richtung, lauf", flüstert Dennis bestimmt und deutet an das andere Ende des Tunnels. Er greift nach Marcos halbleerer Bierdose und senkt den Kopf. Keine Spuren hinterlassen. Kapuze auf, Rucksack an, los.

Die Stimme ist hinter der Kurve angekommen und verstummt. Dennis und  Marco setzen  zum Sprint an. „Halt, stehen bleiben!“, ruft ein Mann mit tiefer, voller Stimme. Der Schacht hat zwei Ausgänge: Ihr Hinweg ist versperrt, bleibt nur die Flucht nach vorne. Die U-Bahn-Station, das buchstäbliche Licht am Ende des Tunnels. Dennis und Marco sehen nichts, der Schacht ist stockdunkel. Am Boden Gleise, Schwellen, Weichen, Starkstromleitung, alles kreuz und quer. „Stehen bleiben!“, hallt es an den Betonwänden wider.

Aufgeben ist keine Option, zu viel steht für sie auf dem Spiel. In Deutschland sind sie aktenkundig, fast schon alte Bekannte der örtlichen Polizei. Beide waren schon mehrere Monate in Haft, daheim sitzen sie auf einem Schuldenberg aus Schadensersatzansprüchen und Prozesskosten. In Wien sind sie ein unbeschriebenes Blatt und konnten sich eine neue Existenz aufbauen. „Im Exil“, wie sie es nennen.

„Halt, stehen bleiben!“ Die Stimme ist näher gekommen. Vielleicht fünfzig, vielleicht zwanzig, vielleicht zehn Meter. Wie nahe, weiß Dennis nicht. Würde er sich umdrehen, könnte er die Schatten am Boden nicht mehr ausmachen. Immer wieder flackert das Licht für den Bruchteil einer Sekunde auf. Der Lichtkegel einer Taschenlampe erreicht die beiden. Das Aufleuchten ist zu kurz, um etwas am Boden erkennen zu können. Sie hinterlässt nur noch mehr Dunkelheit. Blind sprintet Dennis weiter. Der grobe Schotter unter seinen Füßen kracht und knirscht bei  jedem Schritt:  Klick, Klack, Klick, Klack. Plötzlich ist ein dumpfer Aufprall zu hören. Dennis hat eine Weiche übersehen. Er schlägt am Boden auf. Das Flackerlicht der Taschenlampe kreist in zackigen Bewegungen um ihn.

I’M THE QUING. Zwei Stunden zuvor ist noch alles in Ordnung. Dennis und Marco sitzen gemütlich in einem kleinen verrauchten Pub, trinken Bier und sinnieren über die Graffiti-Szene. Und die kennen sie schon lange. Der heute 30-jährige Dennis ist seit seiner Jugend aktiver Sprayer. „Aus Einsamkeit", wie er sagt. Dennis ist Vollblutkünstler. Er hat Kunst studiert, steckt all seine Energie in seine Passion. Tagsüber illustriert er Kinderbücher, fotografiert und macht Kurzfilme. Viel verdient er dabei nicht, aber es reicht zum Leben. Fast jede Nacht zieht er um die Häuser und malt. Ohne Sprühdose oder Marker geht er sowieso nie aus dem Haus. Er sieht sich als „Impuls-Sprüher“ und zieht am liebsten alleine los. Zwischen legalen und illegalen Flächen macht Dennis keinen  Unterschied.  Auch was er malt, legt er nicht fest. „Abstrakt, Buchstaben, Figuren… Es soll Spaß machen“, meint er.

Mit der Graffiti-Szene will Dennis nichts mehr zu tun haben. Zu viele Selbstdarsteller_innen seien unterwegs. „Du brauchst nicht Graffiti machen und meinen, du bist hart. Da wird viel aufgebauscht“, kritisiert er. Außerdem: Sprayer_innen arbeiten entgegen der gesellschaftlichen Norm und trotzdem gebe es gerade auch in der Szene Regeln und Hierarchien, etwa im Bezug auf beliebte Sprayflächen. Spätestens wenn jemand das Werk eines oder einer anderen übersprüht, herrscht Krieg. Verletzte Egos lassen schnell die Fäuste fliegen. Trotzdem gibt Dennis zu: „Dieser romantische Gedanke, der Mythos vom Unbekannten… Klar habe ich mich schon auch manchmal als König gefühlt.“ Heute sprüht er seinen Namen aber nur mehr aus Nostalgie. Als wäre auch der Sprayer in ihm mit den Jahren erwachsen geworden.

LEGAL, ILLEGAL? SCHEISSEGAL. Marco hat die Sprühdosen dabei. Sie besprechen, ob seine Farbe für die ganze Tour reichen wird. Marco kramt eine Bierdose aus seinem Rucksack, dann machen sie sich auf den Weg. Zwischen Wohnhäusern und U-Bahn spazieren sie, unterhalten sich. Hier und da malt Marco sein Erkennungszeichen, den so genannten „Tag“, an alles, was halbwegs senkrecht emporragt. So wissen alle aus der Szene, dass er hier war. Nach einer Viertelstunde Fußweg werden die beiden langsamer. Ein Zaun trennt Wiese von U-Bahn-Tunnel, legal von illegal. Noch ein kurzer Blick nach links und rechts, dann geht es  bergab.

Wie genau sie in die U-Bahn-Schächte kommen, will Dennis nicht publik machen. Er will die Sicherheitsverantwortlichen der Wiener Linien nicht provozieren, und schon gar nicht will er, dass Überwachungsmaßnahmen  verschärft werden. Dabei sind die beiden ohnehin Profis. Aus Dennis' Mund klingt das Überbrücken von Alarmanlagen wie das kleine Einmaleins: Unbedarft, simpel und absolut harmlos. Und wenn doch einmal die Polizei kommt? „So lernt man, schnell zu malen. Und zu rennen.“

Die Strafen für das Sprühen sind in Dennis' Augen viel zu hoch. An ein bisschen Farbe am Zug sei schließlich noch niemand gestorben. Leben und leben lassen, so wäre es ihm am liebsten. Dennis will kritisieren, aufmerksam machen und keiner Privatperson schaden. Und Unternehmen hätten ohnehin gute Versicherungen, die die Reinigungskosten übernehmen  würden.

Dass nicht alle Dennis' legeren Umgang mit der hiesigen Legislative teilen, versteht sich von selbst. Vor allem jene Menschen, denen die besprühten Flächen gehören, sind von Graffiti selten begeistert. Die Aufklärungsrate von Sachbeschädigung durch Graffiti liegt zwischen zehn und 20 Prozent, folglich bleiben viele auf den Reinigungskosten sitzen.

Florian Gross, Pressesprecher des österreichischen Haus- und Grundbesitzerbundes meint dazu: „Wir schätzen die künstlerische Freiheit, jedoch ist uns die Freiheit, über das eigene Eigentum zu verfügen, mindestens genauso wichtig“. Diese sei schließlich ein „demokratisch verankertes Grundrecht“ und als solches auch entsprechend zu schützen. Gross würde sich deshalb mehr Überwachung auf Wiens Straßen wünschen.

Dennis versteht nicht, warum viele Menschen lieber graue Wände anstarren als bunte. Er sieht sich als antikapitalistischer Stadtverschönerer, als Künstler und Gesellschaftskritiker. Er will nicht Schaden erzeugen, sondern die Stadt durch seine Graffiti mitgestalten. Warum dann manche Graffiti nun wirklich nicht sonderlich schön aussähen? „Wenn wir nicht davonlaufen müssten, hätten wir auch mehr Zeit und könnten aufwendigere  Dinge  machen“, kontert er. Die Illegalität stelle sie eben unter Zeitdruck. Dass die Stadt Wien unter dem Projekt „Wienerwand" öffentliche Flächen zur Besprühung freigibt, löst das Problem nicht. Legale Flächen sind für viele Sprayer_innen keine Alternative. Zu viele Dosen bräuchte es, um die Werke des Vorgängers oder der Vorgängerin wirksam zu übersprühen, zu vergänglich ist das Kunstwerk, das oft schon nach wenigen Tagen erneut übersprüht wird. Wer zumindest ein wenig Beständigkeit will, muss, so scheint es, den illegalen Weg gehen.

PARALLELWELT. Es ist elf Uhr nachts, als Dennis und Marco im stillgelegten U-Bahn-Tunnel ankommen. Züge fahren hier schon lange keine mehr. Zielstrebig hopst Dennis über die Gleise und drückt den Lichtschalter an der Wand. Die Neonröhren gehen an und tauchen den Tunnel in ein schummrig-düsteres Licht. Marco nippt an seinem Bier und stapft hinter Dennis her, immer tiefer in den grauen Tunnel. Nur das Nötigste wird besprochen.

Für Dennis sind die U-Bahn-Schächte eine kleine Parallelwelt. Ein bisschen ausbrechen aus der Realität und aus ihren Normen. „Hier bist du mit all dem konfrontiert, was die Stadt nicht sehen will. Da triffst du Bettler, Obdachlose, Leute, die nicht erwünscht sind.“ Ein zweites, ein anderes Wien, nur ein paar Meter unter der Stadt.

Nach zweihundert Metern bleibt Dennis hinter einer Biegung stehen und deutet an die rechte Tunnelwand. Sie wird von zwei Neonröhren von oben beleuchtet wie in einer Galerie. Die Sicht auf den Ausgang ist versperrt, in die andere Richtung ist der Schacht dunkel. In zielsicheren zügigen Armbewegungen beginnt Dennis, schwarze Linien über die graue Mauer zu ziehen. Für ihn sind „Spaziergänge“ wie dieser eine Art Therapie. Die Wand ist sein Tagebuch, die Farbe seine Worte. Die beiden sind so in ihre Arbeit vertieft, dass sie den dumpfen Widerhall der Männerstimme erst sehr spät bemerken.

ZERO TOLERANCE. Wenn es um Graffiti geht, verstehen die Wiener Linien keinen Spaß. Sie fahren eine „Null-Toleranz-Politik“, wie Pressesprecher  Daniel Amann erklärt: „Unsere Fahrgäste zahlen für ihren Fahrschein beziehungsweise ihre Jahreskarte und erwarten sich dafür Pünktlichkeit, Sicherheit  und Sauberkeit. Deshalb entfernen wir auch umgehend alle Graffities in den Stationen." Die Reinigung macht jedoch nur einen Bruchteil des jährlichen Gesamtschadens durch Graffiti aus, nämlich rund 260.000 Euro. Der weitaus größere finanzielle Schaden entstehe durch Überstellungsfahrten, zusätzliche Personalkosten und die Reservehaltung von Ersatzzügen. Im Jahr 2014 sei so ein Gesamtschaden von rund 2,7 Millionen Euro entstanden, heißt es seitens der Wiener Linien. Um es gar nicht erst so weit kommen zu lassen, werden Securities angeheuert. Immer wieder treffen diese auf Sprayer, manchmal kommt es zu handgreiflichen Auseinandersetzungen, oft mit Verletzten auf beiden Seiten. Darauf will es Dennis nicht ankommen lassen. Er rappelt sich vom Boden auf und läuft weiter, ohne sich umzusehen. Marco ist jetzt einige Schritte vor ihm, die U-Bahn-Station kommt näher.

Ein letztes „Halt! Stehen bleiben!“ hallt an den Wänden wider. Dennis springt über die Starkstromleitung in der Mitte und läuft die letzten Meter an der linken Tunnelwand weiter. Marco bleibt rechts. Sie sprinten in die hell erleuchtete Station, das grelle Licht blendet sie. Die wartenden Fahrgäste wirken surreal, wie Wachsfiguren. Dennis hat aufgeholt, die beiden laufen auf die jeweils nächsten Bahnsteige zu, die Köpfe gesenkt. Das Ziel im Kopf sprinten sie  über die U-Bahn-Gleise auf den Bahnsteig. Sie hasten die Stufen hinauf, hinaus aus der Station. Einen Augenblick später sind die schwarzen Figuren in der Nacht verschwunden.

 

Milena Moro hat für das progress die beiden Sprayer eine Nacht lang begleitet.

*Name von der Redaktion geändert

AutorInnen: Milena Moro