OK Computer

  • 24.06.2015, 19:38

Kann sich wer an die Zeit erinnern, als man in einem Chat anwesend („online“) sein musste, um Gespräche lesen zu können? Aktuelle und vergangene Schmankerl aus dem Internet of Things.

ABER NATÜRLICH. Beim Wort „Technik“ denken wir zuerst an Maschinen, Computer und schwere, komplizierte Apparate. Abstrakte Gerätschaften, die der Natur und der Menschlichkeit fremd sind oder gar gegenüberstehen. Kopfhörer wachsen bekanntlich nicht auf Sträuchern und bislang gelang es niemandem, ein Rudel Hochöfen in freier Wildbahn zu beobachten. Aber die Übergänge zwischen Natur, Kunst und Technik waren stets fließend. Was wir heute Bionik nennen – die Umsetzung biologischer Erkenntnisse in technischen Anwendungen – gibt es, seit sich Menschen von ihrer Umwelt bewusst zu unterscheiden lernten. Der modernen Bionik haben wir etwa den Klettverschluss oder auch Computerdisplays, welche die Lichtbrechung auf Schmetterlingsflügeln imitieren, zu verdanken. Technik ist ohne Natur nicht zu denken und ohne Menschen schon gar nicht: Der Begriff leitet sich vom altgriechischen tšcnh („techne“) ab, was so viel wie Handwerk oder Kunstfertigkeit bedeutet. Stricken, Kopfrechnen, Muffinsbacken - das sind alles menschliche Techniken, um sich die Natur anzueignen, nützlich, verständlich oder schmackhaft zu machen. Und jede ist eine Kunst für sich.

ENTFREMDUNG FÜR ALLE. Der Ausdruck „Mensch mit Behinderung“ ist irreführend. Er suggeriert, dass die Erfahrung von Hinder nissen im Alltag eine Eigenschaft der Menschen selbst wäre und keine Sache ihres Umfelds. Worin besteht etwa die Behinderung einer Rollstuhlfahrerin an der Universität, wenn ihr bauliche Maßnahmen einen uneingeschränkten Zugang ermöglichen? Hat ein Hörbeeinträchtigter größere Schwierigkeiten, Adornos Geschwurbel über die Entfremdung zu verstehen? Durch die Digitalisierung unserer Kulturgüter lassen sich Inhalte multimedial aufbereiten und mit Computern kann multimodal interagiert werden. Die Einhaltung von Standards der Barrierefreiheit im Webdesign ist dabei nur ein Etappenziel: Unter den Schlagwörtern „Design für Alle“ oder „Universelles Design“ werden langfristige Konzepte und Lösungen der umfassenden Inklusion gesammelt. Anwendungen, Systeme und Geräte sollen so gestaltet werden, dass möglichst viele User_innen mit den verschiedensten Fähigkeiten und Bedürfnissen sie einfach und sicher benützen können.

Illustration: Veronika Lambertucci

BIS SPÄTER. Kann sich wer an die Zeit erinnern, als man in einem Chat anwesend („online“) sein musste, um Gespräche lesen zu können? Können sich die Jüngeren vorstellen, wie chaotisch das war, wenn sich ständig Leute mit „re“ wieder im Chatroom anmeldeten und ihn mit „cu“ verließen? Gruppenchats auf Facebook, WhatsApp und ähnlichen Diensten kennen keine An- oder Abwesenheit. Und ein „Ich bin jetzt übrigens da“ wird eher wenig Rückmeldung auf Twitter generieren. Auf techniktagebuch.tumblr.com finden sich viele Erinnerungen an die Gepflogenheiten überholter Technologien, von über 100 Autor*innen, chronologisch archiviert und auch für die Generation Touchscreen verständlich. Die meisten Einträge sind aber ohnehin aus der Zeit nach 2010, hat doch die Schriftstellerin Kathrin Passig den Blog erst 2014 erstellt. In 20 Jahren wird das interessant sein, verspricht sie. Mal sehen, ob das World Wide Web bis dahin zum Filterbubble-Dorf geworden ist und im Cyberspace wieder brav  gegrüßt werden muss.

VIELFLIEGER_INNENPROGRAMM. Ada Lovelace, die am 10. Dezember 1815 geboren wurde, kümmerte sich nicht um den Wunsch ihres Vaters, dass sie ein „prächtiger Sohn“ werden solle. Mit zwölf beschloss sie nach langer Krankheit, sie wolle fliegen, studierte Vögel und begann ein Jahr später damit, Flügel zu entwerfen. Sie begeisterte sich vor allem für Mathematik und Musik, nannte sich aber auch Metaphysikerin. Heute ist sie uns als erste Programmiererin der Geschichte bekannt. Doch die Rechenmaschine, für die sie ihren berühmten Algorithmus schrieb, wurde nie gebaut. Bedeutsamer war vermutlich ihr Versuch einer „poetical science“: Sie erkannte das Potential solcher Rechenmaschinen, träumte von Möglichkeiten, die weit über Zahlenspiele hinausgingen, und legte sowohl mathematisch als auch ideell den Grundstein für die heutige Informatik. Erst 100 Jahre nach ihrem frühen Tod 1852 erreichten Computer die Leistung, mit der sie rechnete. Ihren Traum vom Fliegen hatte sie wohl nie ganz aufgegeben.

EINHORNBLUT UND PAPIERSTAU. Es gibt Geräte, die den allgemeinen technischen Fortschritt einfach ignorieren. Während in den  letzten Jahrzehnten Computer tausende Male schneller, Internetverbindungen kabellos und Kameras digital geworden sind, scheinen Drucker die lebenden Fossilien des Büroalltages zu sein. Kein Tag, an dem nicht ausgetrocknete Tintenpatronen (deren Wert nur knapp unter dem von Einhornblut liegen kann) oder ein Papierstau für wutverzerrte Gesichter und Hasstiraden auf sozialen Netzwerken sorgen.

Und selbst wenn mechanisch alles läuft und der Drucker sich entscheidet, das teure Spezialpapier ausnahmsweise mal nicht in tausend Fetzen zu zerkleinern, druckt er stattdessen nur kryptische Botschaften aus Sonderzeichen. Zugegeben: Drucker sind komplizierte mechanische Geräte, die mit einer Vielzahl an Papieren und Formaten zurechtkommen sollen. Wetterfühlig sind sie auch noch: Zu hohe oder zu niedrige Luftfeuchtigkeit lässt die Blätter aneinan derkleben, der Papierstau ist die logische Konsequenz. Aber es gibt Hoffnung: Bis zum papierlosen Büro kann es nur noch ein paar Jahrzehnte dauern.

ENDLOSE GEOMETRIE. Lange kannte die Mathematik nur glatte geometri- sche Flächen und Formen: Kreise, Rechtecke, Zylinder und so weiter. Berge sind allerdings keine idealtypischen Pyramiden und realistische Bäume lassen sich nur schwer mit Lineal zeichnen; die Welt wird von rauen Oberflächen dominiert. Benoit Mandelbrot erkannte dies nicht als erster, brachte aber ein klein wenig Ordnung ins Chaos. Nach einer kurzen Uni-Karriere landete er 1958 bei IBM, wo seine unkonventionellen Ideen Anklang fanden und vor allem berechnet und visualisiert werden konnten. 1975 prägte er den Begriff der Fraktale, das sind natürliche oder mathematische Phänomene, die aus sich immer wiederholenden Mustern bestehen.

Daraus ergeben sich nicht nur psychedelische Bilder, sondern viel banalere Dinge: von Antennen in Smartphones über CGI-Landschaften in Filmen und Videospielen bis hin zur medizinischen Datenanalyse – die Anwendungsmöglichkeiten von fraktaler Geometrie scheinen so endlos wie die Mandelbrotmenge selbst.

AutorInnen: David Ring