Endstation Sehnsucht

  • 17.11.2012, 01:31

Warum die Kindheit als Utopie so ihre Macken hat und besser der Tod abgeschafft werden sollte. Ein Essay von Simon Sailer.

Warum die Kindheit als Utopie so ihre Macken hat und besser der Tod abgeschafft werden sollte. Ein Essay von Simon Sailer.

Nichts scheint eine Action-Heldin mehr zu motivieren als ein schutzloses Kind. In jedem zweiten Film muss ein Kind mit besonderen Kräften oder besonderem Wissen vor bösen Verfolgerinnen gerettet werden. Auch in der Werbung wuseln so viele Kinder über die Flachbildschirme, dass man den Eindruck erhält, das durchschnittliche Alter der glücklichen Fernsehbevölkerung liege bei etwa 15. Selbst in politischer Propaganda, die ihre Sache gut macht, darf ein Kind nicht fehlen. Kinder symbolisieren Unschuld, Verwundbarkeit und Glück. Sie dürfen noch schwach sein, ihr Leben ist unbeschwert und frei von jedweder Pflicht oder Härte. Es besteht aus Spiel und Spaß. So zumindest das Bild, das sie hartnäckig verkörpern und das ihnen zu so vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten verhilft.

Erwachsen werden. In Wirklichkeit ist das Leben der Kinder natürlich oft gar nicht frei von Problemen und Verpflichtungen. Schon sehr früh werden sie mit dem Prinzip der Realität konfrontiert und müssen ihre Wünsche aufschieben. Bereits wenn sie schreien und nicht sofort gefüttert werden, oder wenn sie lernen sollen, ihren Stuhl zurückzuhalten. Später werden die Probleme nur noch größer. Im besseren Fall müssen sie ihre überforderten Eltern unterstützen, sich um ihre Geschwister kümmern. Im schlechteren sind die familiären Verhältnisse eher Hölle als Paradies: Es gibt physische und psychische Gewalt, Vernachlässigung, Kälte und Brutalität. Komischerweise scheint das zunächst nicht am Bild zu kratzen, das Kinder repräsentieren. Es hält sich wider besseren Wissens und nichts kann ihm etwas anhaben. Kinder bleiben süß und fröhlich und unschuldig. Vielleicht, weil sie an die eigene Kindheit denken lassen und diese in der Regel verklärt wird. Den Allermeisten erscheint die eigene Kindheit in der Erinnerung schöner, als sie sie empfunden haben, während sie sie durchlebten. Auch nach dem Zivil- oder Wehrdienst etwa erklären alle, sie hätten doch auch etwas gelernt und so schlecht wäre es im Grunde gar nicht gewesen. Während der erniedrigenden Schinderei haben die selben jungen Männer freilich weniger freundliche Worte gefunden. Noch der letzte miese Drecksjob wird im Nachhinein zu einer wertvollen Lektion umgedeutet, die noch anderen anempfohlen wird. In noch stärkerem Maß gilt das freilich für die Kindheit, welche der Erinnerung nur zerstückelt und ungenau zugänglich ist. Zu einem großen Teil besteht sie aus Bildern, die im TeenagerInnen- und Erwachsenenalter gedanklich eingefügt wurden. Erinnert jemand die eigene Kindheit als schlecht, muss sie also schon ziemlich furchtbar gewesen sein.

Nützliche Lügen. Aber wenn dem so ist, hat die Verklärung dann nicht auch irgendeinen Sinn, ist sie nicht zu etwas gut? Vielleicht wird der Lüge unrecht getan, wenn sie automatisch zum Schlechteren gemacht wird. Womöglich ist die Wahrheit nicht immer gut und die Lüge nicht immer schlecht. Es wird zwar die Wirklichkeit weniger scharf gesehen, doch schließlich ist diese Erinnerung des nie Gehabten auch ein Leitbild für die Zukunft. Anderen Kindern soll es auch so gut gehen und überhaupt sollte es wieder so sein wie früher, wo angeblich alles besser war. Die Zukunft sollte schöner werden. Es gibt eine seltsame Einheit von Utopie und Konservativismus. Die Konservative will etwas bewahren, das eigentlich nie gewesen ist. Die Familie, die sie zu beschützen vorgibt, in der sich alle lieben und füreinander sorgen, müsste überhaupt erst erfunden werden. Eher verdoppeln sich in der Familie die Verhältnisse der Gesellschaft. Arbeitszwang und Härte gegen sich und andere verlängern sich bis tief in die zwischenmenschlichen Beziehungen. Ob jene Familie, nach der sich viele Konservative sehnen, überhaupt wünschenswert ist, darf übrigens bezweifelt werden. Jedenfalls aber, könnte eingewandt werden, sei es besser, die Welt zu erkennen, wie sie ist und ihr Falsches aufzudecken, anstatt sich in nützlicher Selbsttäuschung zu ergehen. Denn wer das Falsche erkennt und benennt, so die Idee, erweist dem Richtigen einen größeren Dienst, als wer ein Hirngespinst schlichtweg zum Richtigen erhebt. Das Gegenstück zum eingebildeten Glück der verschonten und unbeschwerten Kindheit ist der Tod. Der Tod ist das Ende von Möglichkeit. Er ist das Ende. Er wird gefürchtet und ersehnt. Die Utopie der Kindheit lässt sich negativ als Idee der Abschaffung des Todes ausdrücken.

Die Abschaffung des Todes. Abschaffung des Todes hat in den meisten Ohren einen seltsamen Klang. Die Idee hat für die meisten etwas Bedrohliches. Nicht sterben? Aber das wäre doch furchtbar! Eine ungemein verbreitete, aber überraschende Reaktion angesichts der zahlreichen Geschichten, in denen machtgierige Halunken über Leichen gehen, um in Jungbrunnen zu baden. Es sind wohl nicht zufällig immer die Bösewichte, die sich das ewige Leben wünschen, während die braven Heldinnen um die Gefährlichkeit dieses Vorhabens zu wissen scheinen. Die Vorstellung, nicht zu sterben, schreckt viele noch mehr als der Tod. Dabei fragen sie nur selten neugierig nach, wie das überhaupt gemeint sei. Denn die Formel „Abschaffung des Todes“ ist alles andere als eindeutig. Ist damit die ewige Jugend gemeint? Kann auch durch Einwirkung größter Gewalt nicht sterben, wer es will? Eine unwahrscheinliche Vorstellung, wenn Menschen den Tod beseitigen könnten, könnten sie ihn wohl auch wieder einführen? Handelt es sich überhaupt um eine bloß naturwissenschaftliche Utopie oder geht es eher um die Beseitigung von Zuständen, in denen das Sterben alltäglich ist? Aber diese Fragen scheinen die Menschen zunächst gar nicht zu kümmern, sie erschrecken bloß vor der Vorstellung des ewigen Lebens. Das Leben ist ihnen so unangenehm, dass der Tod für sie eine Erlösung darstellt und seine Abschaffung ihnen als brutale Verewigung der Qual erscheint – es kann nichts Schlimmeres geben. Auch deshalb gewinnen wohl die Vampire, die Untoten, so an Faszination. Sie sind das personifizierte ewige Leben. Gefangen im begrabenen Silberkäfig lägen sie so für alle Ewigkeit. Eine Vorstellung angesichts welcher der Tod, der schnelle, schmerzlose Tod, wie ein Segen erscheinen muss: des Schlafes Bruder. So wie die Menschen mit ihrem Leben nichts anzufangen wissen, werden auch Vampire gerne als dekadente Zynikerinnen porträtiert, die das Leben schon seit Jahrhunderten langweilt.

Lebenselend, Todeselend. Die Zeichnerin und Graphikerin Käthe Kollwitz hat das Thema Tod in zahlreichen Arbeiten behandelt. Sie stellt den Tod ganz ähnlich dar wie das Elend. Der Hunger und die Verzweiflung, die sie aufs Papier bringt, sind Hunger und Verzweiflung des Todes. Der Tod ist die Konsequenz des Leides, das sie zeigt. Ihr Elend ist ein Todeselend. In Mitteleuropa hat diese Darstellung des Leids ihren Schrecken für viele verloren. Es wird zwar noch mitleidig und bestürzt geschaut bei Bildern von hungernden Kindern und vielleicht eine kleine Spende springen gelassen. Aber dieses Leid wird als Leid der Anderen erlebt. Es betrifft eine selbst nicht. Was die Menschen betrifft, ist das Lebenselend. Wenn etwa der Regisseur Ulrich Seidl in Import/Export alte Menschen zeigt, die eben noch nicht gestorben sind, aber deren Leben auch kein Leben ist, das ängstigt und bestürzt. Sie sind die Vampire im Silberbettgestell. Deshalb interessieren sich neuerdings schon die Jungen und Gesunden für Sterbehilfe. Auf den Tod soll Verlass sein. Wurde das Altern in den 1990ern noch verdrängt und sich damit in jungen Jahren vorerst einfach nicht beschäftigt, so soll heute nichts mehr dem Zufall überlassen werden. Wer sterben will, soll sterben dürfen. Das ist einfacher, als dafür zu sorgen, dass nicht soviel gestorben werden will; leichter als für Verhältnisse einzutreten, in denen die Menschen leben wollen und wenn es geht, noch ein bisschen länger, in denen sie mit den Worten des Kabarettisten Georg Kreisler sagen würden:

Doch sollte sich einmal in meinem Leben
Der Tod trotz alledem zu mir begeben
Und sagen: „Lieber Freund, sei nicht beklommen
Die Stunde schlägt, du musst jetzt mit mir kommen.“
Dann sag ich: „No, es wird mir eine Freud´ sein
Nur muss es wirklich ausgerechnet heut´ sein?
Und ruft er dann: „Was zögerst du? Du musst!“
Dann sag ich: „Nein, ich hab ka Lust!“

Voll Hunger und voll Brot. Ein anderer Dichter, der von den Nazis ermordete Kommunist Jura Soyfer, hat dem Thema Leben und Tod einige ernstere Worte gewidmet. In seinem Lied von der Erde spitzt er den Widerspruch zwischen dem, was möglich wäre und dem, was ist, zu: „Voll Hunger und voll Brot ist diese Erde / Voll Leben und voll Tod ist diese Erde / In Armut und in Reichtum grenzenlos.Es wäre heute möglich, dass niemand mehr hungert; Nahrung ist im Überfluss vorhanden. Nur verhungern die Menschen vor den Bäckereien, weil sie kein Geld haben, weil sie von den Gütern getrennt sind, die sie mitunter mit den eigenen Händen herstellen. Das Leben wird in dem Lied zur Chiffre des Potentials dessen, was sein könnte und der Tod wird zum Mal des unnötigen Leids. Das Gedicht des Autors des Dachauliedes legt noch einen Optimismus an den Tag, der heute nur mehr schwer vorstellbar wäre. Wenn er die oben halb zitierte Strophe mit den Versen schließt „Gesegnet und verdammt ist diese Erde, / Von Schönheit hell umflammt ist diese Erde, / Und ihre Zukunft ist herrlich und groß“, dann ist diese Möglichkeit – sofern sie je bestand – aus heutiger Sicht vertan.  

Kindheitstraum. Dass einige dennoch an der Möglichkeit dieser Zukunft festhalten, hat vielleicht doch wieder mit der Kindheit zu tun. Es ist nämlich irgendwo ein kindlicher Wunsch, dass Friede sei auf Erden. Oder zumindest einer, der heute kindlich tönt – so wie die Formeln und Reste der Religion. Denn die allzu Erwachsenen haben eingesehen, dass es gilt, zu akzeptieren, was nicht zu ändern ist. Sie sagen, es solle so sein, weil es nicht anders sein könne. Sie verteidigen, was ist, weil es so ist, wie es nun einmal ist. Und wer sich damit nicht abfinden will, die sei noch zu jung, sei im Grunde noch ein Kind, werde schon noch darauf kommen, schon noch zur Vernunft kommen. Dabei ist es gerade Unvernunft, Zustände zu legitimieren, in denen die Menschen zu Hunderttausenden ohne Not verrecken, ertrinken, ermordet und gefoltert werden, in denen die Menschen in Angst leben und unter der ständigen Drohung von Gewalt. Das Vernünftige wäre es, in dieser Hinsicht ein trotziges Kind zu bleiben und an dem infantilen Wunsch festzuhalten, alles möge endlich gut werden. Und auch darauf zu bestehen, wenn im Grunde nichts dafürspricht. Denn der Wunsch muss sich nicht an die Realität halten, er ist zunächst eben ihr Gegenteil: Was nicht ist. Er ist aber eben immer auch ein Noch Nicht, etwas, das werden kann. Und wäre es auch ein Wunder. 

AutorInnen: Simon Sailer