Eine „irre“ Normalität

  • 25.06.2015, 12:00

Politiker_innen und Medien fordern eine ,,Lockerung der Schweigepflicht" oder gar Berufsverbot für Depressive. Angehörige sagen: ,,Stell dich nicht so an!" Stigmatisierung und Diskriminierung sind für psychisch erkrankte Menschen Alltag – nicht erst seit dem Germanwings-Absturz.

Politiker_innen und Medien fordern eine ,,Lockerung der Schweigepflicht" oder gar Berufsverbot für Depressive. Angehörige sagen: ,,Stell dich nicht so an!" Stigmatisierung und Diskriminierung sind für psychisch erkrankte Menschen Alltag – nicht erst seit dem Germanwings-Absturz.

„Geh halt mal unter Menschen! Wenn du erstmal da bist, macht's auch Spaß. Oft kommt der Appetit ja auch erst beim Essen.“ (@Riotbuddha)
„Stell dich nicht so an, das ist nur 'ne Phase!“ (@_wolkenmaedchen) 

„Man kann sich auch in was reinsteigern.“ (@StrassenKatze)

„Ach das Ritzen macht sie ja nur, weil sie Aufmerksamkeit will. Nicht drauf achten, die hört dann schon  von  selbst  damit  auf.“ (@JoylentGreen)

„Ich würde ja niemanden mit so einer Krankheit einstellen.“ (@Traumatonastie)
„Merkst du nicht, wie du die Stimmung kaputt machst und damit die gesamte Familie tyrannisierst?“ (@wuschelkeks)

Im Herbst 2013 teilten Betroffene von psychischen Erkrankungen – initiiert von der Bloggerin Hengameh Yaghoobifarah – diese und ähnliche Aussagen aus ihrem persönlichen Umfeld auf Twitter unter dem Hashtag #isjairre. Im ersten Moment mag #isjairre ironisch klingen, doch der Hintergrund ist weitaus ernster: Die Erfahrungen, die unter dem Hashtag zu lesen sind, reichen von Unverständnis und Ignoranz bis hin zu Stigmatisierung und Diskriminierung (im Folgenden auch als Ableismus, also Diskriminierung aufgrund einer Behinderung oder chronischen Erkrankung, bezeichnet).

FAUL? VERRÜCKT? GEFÄHRLICH? Viele  Betroffene sind in Zusammenhang mit ihrer Erkrankung negativen Stereotypen ausgesetzt. So werden etwa Schizophrene oft als pauschal gefährlich dargestellt, Depressive als faul und undiszipliniert, suizidale Menschen als egoistisch. Erkrankte werden mit Adjektiven wie „verrückt“, „irre“ oder gar „unzurechnungsfähig“ beschrieben. Die Krankheit allein reicht oft, einen Menschen zu diskreditieren oder weniger ernst zu nehmen.

Zu den Stereotypen kommt oft Unverständnis von Nichtbetroffenen dazu. Auch wenn die Gesellschaft über psychische Erkrankungen heute sehr viel aufgeklärter ist als noch vor einigen Jahrzehnten, sind sie immer noch ein Tabuthema. Nicht nur die Tweets unter den Hashtags #isjairre und #NotJustSad zeugen von geringem Wissen darüber. So rät man zum Beispiel depressiven Menschen oft mehr an die frische Luft zu gehen, Urlaub zu machen und meint: „Jeder ist mal schlecht drauf, Kopf hoch!“ Dabei verkennt man, dass Depressionen eine schwere Erkrankung mit mannigfaltigen Symptomen sind. Eine Erkrankung, die nicht zu vergleichen ist mit „ein bisschen schlecht drauf sein“ und sich auch nicht durch gut gemeinte Tipps wie „iss gesünder“ oder „geh mal zum_zur Friseur_in“ heilen lässt.

Psychisch erkrankte Menschen erfahren eine große Bandbreite negativer Reaktionen: von Unverständnis und gut gemeinten (aber eher schädlichen) Tipps über Schuldzuweisungen, Vorwürfe, Stigmatisierung, Beleidigungen bis hin zu beruflicher wie privater Diskriminierung.

SPRECHEN ODER SCHWEIGEN? Nach dem Germanwings-Absturz im März 2015 forderten deutsche Politiker_innen, dass in Zukunft Ärzt_innen bei bestimmten Berufsgruppen psychische Erkrankungen den Arbeitgeber_innen melden sollten. Was das für die Karriere der Betroffenen bedeuten würde, muss wohl nicht weiter ausgeführt  werden. Diskriminierung tritt ohnehin schon in allen Berufsfeldern auf. Eines von vielen  Beispielen  ist  der Fall des Fußballprofis Andreas Biermann. Nach dem Suizid des Torwarts Robert Enke wurden beim Deutschen Fußballbund wie auch in der Allgemeinheit Rufe laut, dass wir als Gesellschaft offener über Depressionen sprechen und auch Betroffenen die Möglichkeit dazu geben sollen und müssen. Biermann nahm dies ernst und sprach in der Öffentlichkeit über seine Depressionen und Suizidversuche. Folge seines Coming-outs war, dass er keine weiteren Verträge mehr bekam. Mittlerweile ist auch er an Suizid verstorben.

Doch nicht nur beruflich erleben psychisch erkrankte Menschen Benachteiligung. Das Stigma der Krankheit bedeutet Ausgrenzung und Isolation. Laut den  Düsseldorfer Psychologen Wolfgang Wölwer und Harald Zäske können die Folgen für Betroffene Verlust von Selbstwertgefühl, (sozialer) Rückzug, erschwerter Zugang zu Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten und verminderte Lebensqualität sein. Familien entfremden sich, Freund_innenschaften zerbrechen,  man nimmt kaum noch am sozialen  Leben teil.

Wer mit ständiger gesellschaftlicher, privater, und beruflicher Ablehnung konfrontiert wird, läuft Gefahr sich zurückzuziehen und sich selbst in Frage zu stellen. Als Folge davon wird er_sie sich auch nur noch zögerlich Hilfe suchen. Das heißt, Stigmatisierung kann sowohl den Krankheitsverlauf an sich massiv verschlechtern als auch Menschen davon abbringen, sich in Behandlung zu begeben – die Auswirkungen davon können bis zum Suizid  gehen.

SMASH THE SYSTEM. Die möglichen Ursachen von Ableismus gegen psychisch Erkrankte sind vielfältig. Dazu gehört, dass „Krankheit“ mit „Schwäche“  gleichgesetzt  wird,  welche gesellschaftlich als inakzeptabel gilt. Abgelehnt und ausgestoßen werden alle, die von der herrschenden Norm abweichen. Unser aller Aufgabe als Teil dieser Gesellschaft bleibt es daher, sowohl Ursachen als auch Folgen von Ableismus zu reflektieren und dagegen anzugehen. Und nicht zuletzt sowohl im privaten Umfeld als auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene eine Umgebung zu schaffen, in der Menschen mit psychischen Erkrankungen nicht  noch  weiter  an  den  Rand getrieben werden.
 

 

Malaika Bunzenthal (malifuror.blog-space.eu) studiert in Frankfurt am Main Soziologie und ist Aktivistin, freie Autorin und Speakerin zu den Themen Antirassismus, Feminismus, psychische Erkrankungen und  Intersektionalität.

AutorInnen: Malaika Bunzenthal