Ein moderner Mythos zwischen Polen und der Ukraine: Galizien

  • 15.04.2015, 09:04

Als Österreich-Ungarn 1772 seine Finger nach potentiellen Kronländern ausstreckte, wurde ein Gebiet mit dem Namen Galizien Teil der Monarchie. Erstmals richtet das Wien Museum seinen Fokus auf die divergierenden polnischen, ukrainischen, österreichischen und jüdischen Perspektiven.

Als Österreich-Ungarn 1772 seine Finger nach potentiellen Kronländern ausstreckte, wurde ein Gebiet mit dem Namen Galizien Teil der Monarchie. Erstmals richtet das Wien Museum seinen Fokus auf die divergierenden polnischen, ukrainischen, österreichischen und jüdischen Perspektiven.

Das Leben in Galizien gestaltete sich für die dort ansässigen, heterogenen Bevölkerungsgruppen extrem unterschiedlich und war von ethnoreligiöser Vielfalt geprägt: der jüdischen, polnischen und ruthenisch-ukrainischen. Ein europäischer Mythos der Völkerverständigung und einer gut funktionierenden multiethnischen Koexistenz wurde geboren.

Heute ist es schwierig nachzuvollziehen, wo Galizien verortet war. Mittlerweile teilen sich Polen und die Ukraine das Territorium. Vor 250 Jahren mischten sich zu den Pol*innen und Ukrainer*innen in dem Gebiet außerdem noch etwa 200.000 Juden und Jüdinnen. Diese Zahl erhöhte sich bis 1900 auf über eine halbe Million. Das Gebiet Galizien wurde auch „Mutter Israels“ genannt und galt als eines der sichersten für die jüdische Gemeinde.

Goral und Goralin bei Szczawnica © ÖNB Bildarchiv und Grafiksammlung

Das Kronland war von Armut gezeichnet. In ganz Österreich-Ungarn gab es kein ärmeres Gebiet. Die Bauern und Bäuerinnen stellten die größte Bevölkerungsschicht, schon bald setzte eine armutsbedingte Massenauswanderung ein. Das sollte sich nach der Jahrhundertwende um 1900 ändern. Durch seine großen Ölvorkommen galt Galizien nach den USA und Russland als das drittgrößte Produktionsland von Erdöl. Aber auch diese kurze Zeitspanne konnte nichts an der generellen Vernachlässigung durch Österreich-Ungarn ändern. Im ersten Weltkrieg eroberte Russland das Gebiet, worauf es Teil der Sowjetunion wurde.

In der Ausstellung im Wien Museum sind vor allem alte Karten und Gemälde zu besichtigen. Eines der neueren Bilder zeigt die träumende Europa, dargestellt von Yurko Koch. 1994 gemalt, kurz nachdem der Ostblock zerfiel, zeigt es die schlafende Mythengestalt auf der Stadt Lemberg. Auch wenn Galizien als Kronland schon nach dem Ende des Ersten Weltkrieges nicht mehr als solches existierte, teilte sich Europa am Ende des 20. Jahrhunderts noch stärker in zwei Lager auf.

Es gibt heute eine wichtige Grenze, die das Gebiet teilt: die EU-Außengrenze, die seit der EU-Aufnahme Polens 2007 besteht. Bilder wie das oben beschriebene „Europas Traum“ zeigen eine prowesteuropäische Orientierung mit neuem Aufwind, die von einigen Künstler*innen in der Ukraine heute vertreten wird, bewusst in Bezug auf Galizien. So lebt in den nationalen Erinnerungen auf beiden Seiten der Grenze der Mythos Galizien fort.

„Mythos Galizien“
Kuratorisches Team: Jacek Purchla, Wolfgang Kos, Zanna Komar, Monika Rydiger, Werner Michael Schwarz
Wien Museum
bis 30.8.2015


 Katja Krüger ist Unternehmerin und studiert Gender Studies an der Universität Wien.

AutorInnen: Katja Krüger