Alles Böse ist autistisch

  • 11.05.2015, 08:00

Behinderte auf Basis fehlender oder unzureichend vorhandener Fähigkeiten abzuwerten wird als Ableismus bezeichnet. Im Journalismus ist es inzwischen gängiges Stilmittel geworden, den Begriff des Autismus für alles zu verwenden, was irgendwie negativ besetzt werden soll – auf Kosten der AutistInnen.

Klarstellung:
In der Ausgabe 03/15 haben wir einen Kommentar über Autismus der Autorin Marlies Hübner veröffentlicht. Wir haben am letzten Tag der Produktion, also einen Tag vor Drucklegung entschlossen, den Begriff "seelische Behinderung" durch den Begriff "geistige Behinderung" zu ersetzen. Wir gingen dabei davon aus, dass beide Begriffe synonym verwendet würden und der Begriff "seelische Behinderung" sich auf den christlichen Begriff der "Seele" beziehen würden, weshalb wir den Begriff "geistige Behinderung" für korrekter hielten. Über den Behinderungsbegriff und seine Definitionen lässt sich allgemein streiten – eins sollte dabei jedoch nicht getan werden: Betroffenen die Definitionsmacht über die Begriffe nehmen, mit denen sie sich selbst bezeichnen wollen.
Das haben wir jedoch getan und möchten uns dafür entschuldigen. Zumindest in der Online-Version haben wir den Begriff wieder geändert.

Viele werden sich fragen, warum solche Änderungen nicht mehr mit Autor_innen abgesprochen werden. Die Antwort ist einfach: Wir arbeiten zu dritt ehrenamtlich (mit geringer Aufwandsentschädigung) am Print-progress und verbringen bei der Produktion ein Wochenende mit Lektorieren, wobei wir von zwei Lektorinnen unterstützt werden. Natürlich verstehen wir, dass Autor_innen am liebsten über jedes Wort und jedes Komma mit uns diskutieren wollen würden – das ist rein zeitlich aber leider nicht drin. Weshalb es dann vorkommen kann, dass wir Sätze kürzen, Leads ändern, neue Überschriften erfinden oder eben auch Wörter ändern, ohne nochmal nachzufragen. Diese letzten Entscheidungen zu treffen ist auch ein Teil unserer Job-Description. Dabei passieren Fehler, und für diesen Fehler möchten wir uns entschuldigen.

Wir werden darüber nachdenken, wie bei heikleren Themen, bei denen wir es als unsere Aufgabe ansehen, Betroffene zu Wort kommen zu lassen, die Produktionsabläufe so gestalten können, dass solche Situationen nicht mehr entstehen.

die progress-Redaktion

 

Behinderte auf Basis fehlender oder unzureichend vorhandener Fähigkeiten abzuwerten wird als Ableismus bezeichnet. Im Journalismus ist es inzwischen gängiges Stilmittel geworden, den Begriff des Autismus für alles zu verwenden, was irgendwie negativ besetzt werden soll – auf Kosten der AutistInnen. 

Die deutsche Sprache verfügt, so schätzen WissenschaftlerInnen, über rund 5,3 Millionen Wörter – Tendenz steigend. Etwa 200.000 der regelmäßig genutzten Wörter sind im „Großen Wörterbuch der deutschen Sprache“ erfasst. Die meisten professionellen SchreiberInnen besitzen dieses Buch, eventuell auch ein Konkurrenzprodukt. Und doch fällt es gerade Menschen, deren Beruf der Umgang mit unserer Sprache ist, schwer, sich in eben dieser souverän, elegant und treffend auszudrücken.

Immerhin: Viele sprachliche Fehltritte, die vor Jahren noch gängig waren, verschwinden nach und nach aus unserem Sprachgebrauch. Wäre da nur nicht diese kleine Gruppe Menschen, die von dieser Entwicklung in den Mainstreammedien bisher vollständig ausgenommen ist: die AutistInnen. Ihre Neurodiversität, also ihre angeborene Entwicklungsstörung, wird zunehmend zu einem schicken, intellektuell klingenden Modewort für alles Negative.

SHELDON, MONK UND SHERLOCK? Autismus ist eine seelische, eine „unsichtbare“ Behinderung, deren Symptome erstmals 1938 vom österreichischen Kinderarzt Hans Asperger beschrieben wurden und die bis heute vergleichsweise unbekannt sind. Der Autismus wird inzwischen als großes Spektrum gesehen, das von leichten Auffälligkeiten bis hin zur schweren geistigen Behinderung reichen kann. Eine quasi kaum überschaubare Vielfalt an Ausprägungen und Persönlichkeiten also, von denen keine der anderen gleicht – ein Punkt, der es so schwer macht, Autismus abseits der reinen Diagnosekriterien zu verstehen. Gerade im Fall von AutistInnen, die man vor der Einführung des Autismusspektrums als Asperger-AutistInnen kategorisierte, bleiben Symptome oft unbemerkt, wenn sie sich nicht selbst outen. Sie werden meist als sehr verschlossen, einzelgängerisch, analytisch denkend und eher humorlos wahrgenommen. Dieser einseitige Blick von außen kann nicht widerspiegeln, was Autismus ist und wer AutistInnen sind. An sie werden oft Ansprüche gestellt, die sie aufgrund ihrer Einschränkungen nicht erfüllen können, was auf längere Sicht Frustration, Neigung zu Depression, erhöhte Arbeitslosigkeit und soziale Isolation verursacht.

ONANIERENDE VOLKSSCHULKINDER. Inzwischen vergeht trotz fehlendem Bewusstsein darüber, was Autismus überhaupt ist, kaum eine Woche, in der sich nicht in einen Zeitungsartikel das Schlagwort „autistisch“ einschleicht. Ende März forderte die mit Plagiatsvorwürfen ins Gerede gekommene Helene Hegemann im Feuilleton der FAZ einen neuen, „autistischen“ Persönlichkeitstypus, einen selbstlosen Übermenschen, der die Gesellschaft vor sich selbst rette: „Bei dieser neuen, glorifizierten Form von Autismus handelt es sich nicht um unberechenbare Asperger-Kids, die schon im Vorschulalter masturbierend am Kronleuchter hängen.“

Nun gut, Frau Hegemann, wir AutistInnen sind hier. Aber warum sollen wir eine Gesellschaft retten, die uns als Synonym für Ichbezogenheit, Isolati-
on, Egozentrik, Rücksichtslosigkeit und Ähnliches verwendet? Lassen wir die verstörenden sexualisierten Vorschulkinder weg, bleiben nur noch eine Handvoll Worte in Hegemanns Text. Diese ergeben zwar keinen Sinn, werfen aber ein recht merkwürdiges Licht auf AutistInnen. Eigentlich will Hegemann in ihrem Feuilleton-Beitrag nur ein bisschen jammern, weil man während der Plagiatskontroverse vermeintlich so schlecht mit ihr umging. Und das direkt zu tun, gehört sich ja nicht. Aber Ableismus, nun, das kann man schon mal machen.

WENN BABY DIE WÄSCHE MACHT. Im Februar ließ sich die Geschlechtsverkehrs-Spezialistin Paula Lambert in ihrer Sex- und Beziehungskolumne im Testosteronblättchen GQ darüber aus, dass ihr Protagonist Claus nun in einer festen Beziehung sei. Was sie nicht sonderlich zu freuen schien: „Claus hat eine intensive Phase des sozialen Autismus durchlebt, wie so viele Männer, die plötzlich eine Frau kennenlernen, die ihnen die Wäsche macht.“ Man stutzt kurz, fragt sich, wie so ein sozialer Autismus denn aussieht und ob es Autismus auslösen kann, jemandem die Wäsche zu machen. Dann merkt man, dass Frau Lambert lediglich sagen wollte, dass Claus sich in so einer Beziehung sehr wohl fühlt und die „Fürsorge“ seiner Partnerin ohne Gewissensbisse genießt. Das kann die Autorin nicht gutheißen, also muss sie es abwerten. Warum jedoch AutistInnen den Kopf für etwas herhalten müssen, was Frau Lambert doof findet, verschweigt sie uns leider.

EIN DEPP OHNE SEXUALITÄT. Besonders geschmacklos zeigte sich der Kabarettist Max Uthoff bei einer Rede gegen Mügida (den Münchner Ableger von Pegida), in der er verlauten ließ: „Was ist ein patriotischer Europäer? Ein Autist im Swingerclub.“ Er fand diesen Spruch derart lustig, dass er ihn kurz darauf im ZDF wiederholte. AutistInnen konnten darüber aber weniger lachen. Ihre Sexualität ist immer wieder Ziel wilder Mutmaßungen. Dass Uthoff aber AutistInnen ihre Sexualität per se aberkennt und sie vor einem Millionenpublikum demütigt, ist ihm gleichgültig. Er erntet damit billige Lacher und schlägt behinderten Menschen damit grinsend ins Gesicht.

Die falsche Verwendung und negative Konnotation des Autismus-Begriffs schadet unmittelbar AutistInnen, die nun nicht mehr wagen, über ihren Autismus zu sprechen. Doch genau das ist notwendig, um die Hilfe zu erhalten, die sie benötigen. Autismus ist weder Erkrankung noch Impfschaden oder von mangelnder Liebe oder falscher Ernährung verursachter Zustand. Und ganz sicher kein schlechter Witz, den drittklassige Schreiberlinge immer dann herbeizaubern können, wenn das eigene fachliche Unvermögen nichts mehr hergibt.

 

Marlies Hübner ist Autorin und erhielt mit Mitte 20 ihre Autismus-Diagnose. Seitdem setzt sie sich gegen Ableismus und für die Akzeptanz von AutistInnen ein und schreibt darüber unter anderem als Mitglied der Redaktion für N#mmer und auf robotinabox.de.

 

AutorInnen: Marlies Hübner