Rassismus

„Natürlich gibt es Frauen, die lieber traditionell leben.“

  • 13.04.2017, 11:41
Lena Sara* studiert an der Universität in Bonn und gibt jungen Asylwerber_innen Deutschunterricht. Zudem ist sie in einem Netzwerk tätig, das junge Mädchen unterstützt. Schon früh ließ man sie spüren, dass sie anders ist.

Lena Sara* studiert an der Universität in Bonn und gibt jungen Asylwerber_innen Deutschunterricht. Zudem ist sie in einem Netzwerk tätig, das junge Mädchen unterstützt. Schon früh ließ man sie spüren, dass sie anders ist. Ein friedensbewegter Pfarrer kettete sie aus Protest gegen den Irak-Krieg an einen Baum. Er hielt es für ein tolles Symbol. Mit dem Irak hatte sie zwar nichts zu tun, doch sie war das einzige schwarzhaarige Mädchen in der Klasse. Diese und andere Erfahrungen haben sie wachsam gegenüber Fremd- und Selbstethnifizierung gemacht. Am 21. April wird sie gemeinsam mit Sama Maani an der Universität Wien über die Kritik der Religion und des Islams diskutieren.

progress: Sie waren für einen Vortrag in Wien. Der Titel lautete „Wie die Multirassisten die Verfolgten im Stich lassen“. Was genau ist mit Multirassismus gemeint?
Lena Sara:
Der Begriff Multirassismus stammt von Wolfgang Pohrt. 1992 sprach Pohrt auf einer Konferenz in München, sie trug den Titel „Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus und das Europa von morgen“. Er wandte sich in seinem Vortrag mit dem Begriff des Multirassismus gegen den damaligen Multikulturalismus. Für Pohrt war die Rede von Kulturen nur ein schlecht versteckter Rassismus der Mittelschichten. Multirassismus ist eine Selbst- und Fremdethnifizierung. Menschen wird das Gefühl vermittelt, unabänderlich Teil einer Kultur oder Ethnie zu sein. Die Kultur verdrängte laut Pohrt die Klasse, man redete auch nicht mehr über ökonomische Dinge wie Wohn- oder Lebensverhältnisse. Die Besserdeutschen mögen ihre Ausländer_innen am liebsten authentisch. Die Spanier_innen tanzen Flamenco und haben Schinken dabei und die Türk_innen fragen: „Alles mit scharf?“ und verkaufen Döner. Sie werden von Anfang an anderes behandelt. Die Botschaft ist klar: Du bist Türke/Türkin und wirst das auch immer bleiben. Aber erzähl mal was von deiner Kultur, wir sind nämlich unglaublich tolerant hier. Menschen werden behandelt, als sei ihre Kultur oder Religion eine vererbte und unabänderliche Wesenseigenschaft. Als müsste ich arabisch Sprechen und arabisches Essen lieben. Das ist Multirassismus. Das ist wohl auch der Grund, warum sich viele deutsche Ämter so falsch gegenüber den Opfern von spezifisch islamischer Gewalt verhalten. Die Beamt_innen denken sich: Naja, das greife ich mit der Kneifzange nicht an, das ist eben die Kultur der Moslems – was geht mich das denn an. Dieser Multirassismus ist unglaublich zynisch und menschenverachtend gegenüber all jenen, die nicht „ihrer“ Kultur entsprechend leben wollen, sondern da hineingedrängt werden. Auch für den Neoliberalismus hat dieser Multirassismus eine wichtige Funktion. Es ist nun mal billiger für den Staat, Menschen ihren Familien zu überlassen, als für sie aufzukommen. Die „Muslime“ sollen authentisch im Familienbetrieb Gemüse verkaufen oder zumindest von traditionellen Familien versorgt werden. Die Deutschen haben weniger Konkurrent_innen auf dem ersten Arbeitsmarkt und der Staat muss weniger Sozialleistungen bezahlen. Das ist die herrschaftsstützende Funktion dieses Multirassismus.

Was hat denn diese Ersetzung der Klasse durch die Kultur in der Linken für Auswirkungen?
Klasse, Bildung, Elternhaus, Gewaltfaktoren fallen als Analysekategorien vollkommen weg. Deshalb fühlen sich Vertreter_innen des Postkolonialismus auch von jemandem wie Ayaan Hirsi Ali unterdrückt. Hirsi Ali kommt aus einem sehr armen Teil der Welt, wurde genitalverstümmelt, ist nach Deutschland geflüchtet und hat in den Niederlanden Asyl erhalten. Sie ist auch tatsächlich schwarz. Doch in dieser postkolonialen Denkrichtung ist Hiris Ali die Unterdrückerin. An jeder größeren Universität gibt es People-of-Color-Gruppen, die ähnliches vertreten. Diese Positionen sind zumindest in linken Kontexten hegemonial. Sie werden bei den jungen Grünen, der SPD und auch im SDS vertreten. Vertreter_innen der Postcolonial Studies bekommen sehr wohlwollende Reportagen im Deutschlandfunk. Sie werden von der Mädchenmannschaft supportet, halten Vorträge, leiten Demos und waren Mit-Initiator_innen von #ausnahmelos – einer Kampagne, die nach den Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht 2015 am Kölner Hauptbahnhof ins Leben gerufen wurde. Die sind schon sehr tonangebend.

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Haben sie die Kopftuchdebatte in Österreich ein wenig mitbekommen, die von Sebastian Kurz (ÖVP) Anfang dieses Jahres losgetreten wurde? Was ist davon zu halten? Im Februar gab es dann eine Demo von islamischen Gruppen, der Linkswende und der ATIB gegen das geplante Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst. Auf der Demo für die „Selbstbestimmung“ der Frau wurde eine Geschlechtertrennung durchgeführt. Ein Skandal, der scheinbar keinen interessiert.
Ich muss da immer an die Frauen der Linkspartei denken. Die haben sich während der Fahrt auf der Friedens-Flottile gegen Israel auch auf das Frauendeck schicken lassen. Dass sich ansonsten sehr emanzipierte Frauen solchen Regelungen fügen, hängt wohl mit dem Multirassismus zusammen. In der Geschlechtertrennung erkennen diese linken Frauen einen authentischen Ausdruck einer Kultur, der sie sich gefahrlos für eine gewisse Zeit anpassen. Sie können danach problemlos wieder in ihre heile europäische Welt zurückkehren. Doch kommen wir zum Hijab. Vernünftig wäre es, wenn Linke, Laizist_innen und Liberale für ein Verbot des Hijab bei Polizistinnen, Richterinnen und Lehrerinnen eintreten würden. Natürlich meine ich damit kein Hijab-Verbot im öffentlichen Raum. Als noch wichtiger erachte ich jedoch ein Hijab-Verbot für Schülerinnen bis zum legalen Heiratsalter, also bis sie 16 Jahre alt sind. Dadurch würden Schülerinnen immens geschützt. Sie wären nicht weiter der enormen sozialen Kontrolle der Familien, Brüder und Schwestern ausgesetzt, das Kopftuch tragen zu müssen. Damit wäre vielen geholfen. Auch liberalere Eltern könnten von ihren Nachbar_innen nicht mehr unter Druck gesetzt werden, wenn sich die Tochter gegen den Hijab entscheidet. Unter den aktuellen Umständen wachen alle über die Durchsetzung des religiösen Gebots und setzten die Verweigerinnen mit der Frage unter Druck: „Schwester, warum trägst du denn keinen Hijab?“. Auch ich werde immer wieder damit konfrontiert. Hinzu kommt, dass die Sittenwächterei nach der Durchsetzung des Hijabs nicht aufhört. Ist das Gebot durchgesetzt, wird kontrolliert, ob die Hose nicht zu eng ist. Die Standards der Sittlichkeit werden immer weiter nach oben geschraubt. Das Verbot in der Schule würde zu einer Entsexualisierung führen. Die Männer und Buben könnten sich nicht mehr auf die wenigen Frauen mit offenen Haaren stürzen. Wenn alle ohne Hijab in der Schule sitzen, verändert dies den Umgang miteinander.

Es gibt aber durchaus viele muslimische Frauen, die das Kopftuch freiwillig tragen. Die würde so ein Verbot doch hart treffen?
Wieso denn? Die können doch freiwillig nach der Arbeit oder der Schule den Hijab tragen. Das ist ein sehr schlechtes Argument. Es interessiert mich auch bei ostdeutschen jungen Männern nicht, ob sie ihre rechtsradikalen Symbole freiwillig tragen. Natürlich gibt es Frauen, die lieber traditionell leben. Aber ist das ein Argument gegen die Emanzipation der Frau? Das ständige Tragen des Kopftuches hat für jene Frauen und Mädchen, die dies nicht wollen oder dazu gezwungen werden, sehr negative Auswirkungen. Von Frauen, die das Kopftuch so selbstbewusst tragen, kann man erwarten, dass sie ein wenig Rücksicht auf andere nehmen und es für die paar Stunden einfach lassen. Muss man denn unbedingt 24/7 die Religiosität nach außen tragen?

Sie werden den Einwand schon öfters gehört haben, aber hilft diese Kritik am Islam nicht den Rechten?
Ganz im Gegenteil, es gräbt ihnen das Wasser ab. Wenn die Kritik des Islams aus einer laizistischen und linken Ecke kommt, entlarvt es den rassistischen Hintergrund dieser Parteien vollkommen. Ich will nicht, dass jemand die Staatsbürger_innenschaft oder das Asylrecht verliert. Gegen Abschiebungen und Ausbürgerungen werde ich immer protestieren. Nein, es geht ganz banal um die Gleichheit aller Menschen. Rassistisch ist es doch zu glauben, dass Menschen anders seien, weil sie aus einer anderen Kultur kommen. Jede_r soll hierbleiben – in diese Richtung geht meine Kritik. Ich spreche die Themen Hijab, Ehrenmorde und Zwangsbeschneidung vor dem Hintergrund universeller und unverletzlicher Menschenrechte an. Genau das entlarvt die FPÖ als rassistische Partei. Die Freiheitlichen haben mit dem Islam doch gar kein Problem, solange er außerhalb von Europa praktiziert wird. Deshalb haben sie auch Hardcore-Islamisten aus Ägypten ins österreichische Parlament eingeladen. Es gibt auch andere Beispiele: Malcom X von der Nation of Islam hat sich auch mit den amerikanischen Nazis getroffen. Beide Organisationen hatten ein gemeinsames Ziel: Die Separation der „Rassen“. Jede_r soll – und hier ist auch die Schnittmenge zu zeitgenössischen rechtsaußen Parteien – unter „seinesgleichen“ bleiben. Doch es schadet der FPÖ, der Alternative für Deutschland oder dem Front National, wenn man diese Sachen konkret anspricht. Eine Hirsi Ali ist in einer rechtsliberalen Partei, der Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD) gelandet, weil sie sich bei den niederländischen Sozialdemokraten unverstanden fühlte. Hamed Abdel Samad hat es jahrelang bei den Linken versucht und ist dort hängen gelassen worden. Die meisten Menschen, die aus islamischen Ländern kommen und etwas verändern wollen, haben ein großes Bedürfnis nach Freiheit und Freizügigkeit. Deshalb werden sie anfangs von den Liberalen und Linken angezogen. Dort erhalten sie aber viel zu wenig Unterstützung.

*Die Eltern von Lena Sara mussten aufgrund ihres Engagements in der Vergangenheit unangenehme Erfahrung mit AKP-Anhänger_innen machen. Aus diesem Grund wird ihr Nachname hier nicht genannt.

Veranstaltung: Podium: Warum wir über den Islam reden sollten

Michael Fischer studiert Deutsch und Geschichte auf Lehramt an der Universität Wien.

Der notstandslegitimierte Notstand

  • 21.06.2016, 21:53
Wie Angst für rassistische Asylgesetzgebung genutzt wird.

Wie Angst für rassistische Asylgesetzgebung genutzt wird.

Am 27. April 2016 beschloss der österreichische Nationalrat erneut eine Verschärfung des Asylrechts, wie das auch schon in den letzten Jahren in regelmäßigen Abständen passiert ist. Die aktuelle Novelle bedeutet eine De-facto-Abschaffung des allgemeinen Rechts auf Asyl. So wird es für viele verunmöglicht, ihre Familie nach Österreich nachzuholen, wodurch noch mehr Flüchtende auf gefährliche Migrationsrouten gedrängt werden. Nicht minder problematisch ist die Regelung zu „Asyl auf Zeit“, die den Asylstatus auf drei Jahre beschränkt und danach eine neuerliche Prüfung sämtlicher Asylgründe vorsieht: Dies hebelt aktiv die Teilhabe von Geflüchteten an der Gesellschaft aus und erschwert zahlreichen Menschen eine langfristige Lebensplanung, etwa beim Versuch, eine Wohnung oder einen Job zu bekommen.

AKTUELLE DISKURSE. Diese Verschärfungen wirken sich auf unterschiedliche Aspekte des Lebens Geflüchteter und von Migrant*innen aus, dennoch zielen sie alle auf eines ab: Abschottung. Diese Abschottung aber geschieht – wie jeder andere soziale Prozess – nicht in einem „luftleeren“ Raum, sondern bildet vielmehr konkrete gesellschaftliche Machtverhältnisse ab. Sieht man den Staat als Verdichtung eines materiellen Kräfteverhältnisses, eröffnet das den Blick darauf, dass Gesetze nicht von der vermeintlich privaten Ebene des sozialen Lebens zu trennen sind und gesellschaftliche Kräfteverhältnisse eben dieses Lebens strukturiert und reproduziert.

Hier setzen aktuelle Diskurse über den Notstand an. Dieser sei, so heißt es, unumgänglich: Österreich sehe sich mit einer unbewältigbaren Menge an Geflüchteten konfrontiert. Refugees werden nicht mehr als individuelle Menschen mit eigenen Schicksalen wahrgenommen, sondern als entmenschlichte Masse – was sich auch auf der sprachlichen Ebene manifestiert, etwa durch die Verwendung einer Rhetorik, die ansonsten der Beschreibung von Naturkatastrophen dient.

TRAISKIRCHEN: DIE ÜBERFORDERUNG. Dass diese Bilder der Überforderung relativ wenig mit der Realität zu tun haben, zeigt sich besonders deutlich am Beispiel Traiskirchen. Wenn wir uns an den letzten Sommer erinnern, beherrschten vor allem die katastrophalen Zustände im Erstaufnahmezentrum die mediale Berichterstattung. Politik und Verwaltung schienen nicht in der Lage zu sein, auch nur ein Mindestmaß an Versorgung sicherzustellen. Die Grundversorgung, was Essen oder Hygiene betraf, war mangelhaft, Geflüchtete mussten sich zeitweise stundenlang anstellen, um Essen oder Kleidung zu bekommen. Wurden diese Probleme angesprochen, wurde auf ihre Unlösbarkeit verwiesen: Es wären schlichtweg zu viele Menschen in Traiskirchen, hieß es vonseiten des Innenministeriums. Dass es kein Problem wäre, in einem der reichsten Länder der Welt 4000 Menschen adäquat zu versorgen, wenn der politische Wille dazu vorhanden ist, erklärt sich eigentlich von selbst. Wenig später – als vermehrt Menschen in Österreich ankamen und in den Folgemonaten blieben – gab es plötzlich Unterkünfte.

Wie Traiskirchen in den Jahren zuvor, sind auch diese Unterkünfte in der Regel nicht sonderlich lebenswert, aber: Sie sind vorhanden, obwohl es zuvor jahrelang hieß, es wäre nicht möglich, Plätze bereitzustellen und Traiskirchen zu entlasten. Hier zeigt sich auf der diskursiven Ebene ein kontinuierliches Verschieben dessen, was möglich ist oder nicht, sowie die ständige Anpassung der Auslegung von „Überforderung“: Es ist nicht die angeblich zu hohe Anzahl Geflüchteter, die Österreichs Behörden überlastet, sondern die politische Weigerung, jemals auch nur ein wenig mehr als das Mindestmaß an notwendigen Ressourcen bereitzustellen. Vor allem im Hinblick auf die unzähligen leerstehenden Wohnungen ist das Argument, es gäbe nicht genug Platz für alle, absurd.

EINE FRAGE DER VERTEILUNG. Hier zeigt sich, wie Diskurse der Überforderung konkrete ökonomische Interessen stützen: Anstatt über eine andere Verteilung von Ressourcen zu sprechen, wird – parallel zu rassistischen Diskursen über „undankbare Fremde“, die sich nicht mit unzumutbaren Massenunterkünften zufriedengeben – stetig ein neues Bild der Überforderung produziert. Dass diese Überlastung allerdings nicht einem tatsächlichen Mangel an Ressourcen, sondern bloß dem Unwillen, diese bereitzustellen beziehungsweise umzuverteilen, geschuldet ist, wird nicht angesprochen. Es gibt also nicht grundsätzlich zu wenig Wohnungen, Kindergartenplätze und Schulen, sondern es sind politische Entscheidungen, wie viele Wohnungen gebaut und wie viele Betreuungsplätze angeboten werden. Im öffentlichen Bewusstsein manifestiert sich nur das Problem, nicht aber seine Ursachen und naheliegende Lösungsansätze.

Durch das Nicht-Bereitstellen von grundlegenden Ressourcen hat sich Österreich selbst einen vermeidlichen Notstand konstruiert, auf den dann mit weiteren repressiven Gesetzgebungen reagiert wurde, wie etwa mit der Verschärfung des Asylrechts. Wenn es in Mainstreammedien heißt, der österreichische Staat und die handelnden Politiker_innen wären letzten Herbst überfordert gewesen, und dies der Grund sei, weshalb die Zivilgesellschaft die Versorgung von Refugees übernehmen musste, ist das eine grobe Verzerrung der Tatsachen. ausgeblendet wird, dass ein als überfordernd dargestellter Sachverhalt das Umsetzen neuer Verschärfungen erleichtert und gleichzeitig die Auslagerung staatlicher Aufgaben auf unbezahlte Helfer_innen vorantreibt. Diese „Privatisierung“ staatlicher Aufgaben kann auch zu Überforderung der Helfer_innen führen, nicht zuletzt, wenn ihre Bemühungen Hilfe zu leisten, durch staatliche Repression erschwert werden. So schließt sich der Kreis im Überforderungskarussell und der Notstand erscheint zwar nicht als ideale, aber zwangsläufig notwendige Lösung plötzlich akzeptabel.

Gruppe: Freedom not Frontex
Kontakt: freedomnotfrontex.net

Geschichte ist Geschichte?

  • 16.06.2016, 20:04
Momentan beherbergt das Volkskunde Museum eine Ausstellung über einen Teil der österreichischen Geschichte, der etwa so bekannt ist wie das Museum selbst

Momentan beherbergt das Volkskunde Museum eine Ausstellung über einen Teil der österreichischen Geschichte, der etwa so bekannt ist wie das Museum selbst: Es geht um das Leben jener Schwarzer ÖsterreicherInnen, die in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als Kinder von afroamerikanischen Besatzungssoldaten und österreichischen Frauen zur Welt kamen. Die meisten von ihnen wissen bis heute wenig über ihre Eltern, da sie früh von ihnen getrennt, nach Amerika geschickt oder in Heimen untergebracht wurden. Ihre Geschichten werden in einem minimalistischen Ausstellungsdesign gezeigt, das den Blick auf das Wesentliche zulässt. In Videos wird von ihrem Leben erzählt, teils von den Personen selbst, teils von SchauspielerInnen. Dabei geht es zentral um Themen wie Zugehörigkeitsgefühl und Rassismus. Die persönlichen Erzählungen machen greifbar, wie alleine diese Kinder mit Problemen gelassen wurden, die bis heute bestehen. Gerade das zeigt die Notwendigkeit, Rassismus kontinuierlich zu thematisieren. Bereits durch dessen Thematisierung wird eine Basis geschaffen, die es erlaubt, sich reflexiv damit auseinanderzusetzen. Immer wieder macht sich im Alltag eine große Verlegenheit bemerkbar, Schwarz- und weiß-Sein offen anzusprechen.

Eine Tabuisierung erzeugt jedoch Angst und macht das Problem erst recht unlösbar. Die persönlichen Geschichten von Schwarzen ÖsterreicherInnen zu zeigen, schafft einen gelungenen Zugang, klingen diese doch – abgesehen von rassistischen Erfahrungen – genauso wie die Geschichte einer jeden anderen österreichischen Person. Die Biographien sind verschieden und ganz normal, man findet sich in Erzählungen wieder. Damit wird deutlich, dass Unterschiede nur in unseren Köpfen bestehen und von da aus bedeutsam werden. Geschilderte Erfahrungen mit Rassismus stoßen bei mir auf bloße Verwunderung und machen mich ärgerlich – damit haben die Kuratoren wohl etwas Entscheidendes geschafft: das Thema emotional spürbar zu machen. Und wenn es ihnen gelingt, den einen oder die andere nachdenklich zu machen, können wenigstens diese Menschen etwas verändern. Die Ausstellung regt zu einem offenen Diskurs an, der mir im Hinblick auf die Thematik am Wichtigsten erscheint.

„SchwarzÖsterreich. Die Kinder afroamerikanischer Besatzungssoldaten“
Kuratoren: Tal Adler, Philipp Rohrbach und Nico Wahl
Volkskundemuseum
Bis 21. August 2016

Laura Porak studiert Soziologie und Volkswirtschaftslehre.

50 Jahre alte Forderungen

  • 11.05.2015, 08:36

2015 kandidieren Drittstaatsangehörige erstmals bei der ÖH-Wahl. progress nimmt dies zum Anlass, einen Blick zurück auf die Studienbedingungen afroasiatischer Student_innen der 1960er zu werfen.

2015 kandidieren Drittstaatsangehörige erstmals bei der ÖH-Wahl. progress nimmt dies zum Anlass, einen Blick zurück auf die Studienbedingungen afroasiatischer Student_innen der 1960er zu werfen.

Bei der ÖH-Wahl im Mai gibt es zum ersten Mal das passive Wahlrecht für Drittstaatsangehörige: Studierende ohne EWR-Mitgliedsstaat-Pass können nun nicht mehr nur ihre Stimme abgeben, sie können sich auch als Kandidat_innen aufstellen lassen. Während ihnen das trotz ÖH-Beitragszahlungen bislang gesetzlich verwehrt wurde, findet jetzt ein wichtiger Schritt zur weiteren Demokratisierung der Hochschulen statt: gleiches Wahlrecht für alle.

So weit (nunmehr, endlich!), so gut. Umgesetzt wurde damit eine Forderung, die mehr als 50 Jahre alt ist. Auf unipolitischer Ebene hat der Verband sozialistischer Studierender Österreichs (VSStÖ) die Regelung Anfang der 1970er in Frage gestellt – er scheiterte allerdings an der damals benötigten Verfassungsänderung. Kritik am Wahlrecht wurde aber schon einige Jahre zuvor durch Studierende aus afrikanischen Ländern vorgebracht: Die Zeitschrift der österreichischen Pan-Afrikanischen Studierendenvertretung Africa Today berichtete 1964 klar und eindrücklich von „ernsthaften Verletzungen unserer Rechte als Studierende“ („serious infringe- ments on our rights as students.“) Als dringlichste Forderung nannte das Blatt das aktive Wahlrecht, also die Möglichkeit, wählen zu gehen, was erst mit dem Hochschülerschaftsgesetz 1973 eingeführt werden sollte. Zugleich empörte sich Africa Today über die Praxis der ÖH, grundsätzlich ungleich zu behandeln: Nicht einmal zu internen Treffen wurde der afrikanische Student_innenvertreter – seinerzeit Vizepräsident der Vertretung ausländischer Student_innen – eingeladen. Die Beteiligung wurde schlichtweg verweigert.

GAST IM GETTO. Ein anderer Artikel gibt ausführlicher Einblick in die hegemonialen Diskurse und die Bedingungen von damals: Der Achtseiter „Der Gast im Getto?“ vom 1. März 1965 in der Zeitschrift Wirtschaftshorizont, in dem afroasiatische Studierende ebenso kritisierten, dass sie „in der Hochschülerschaft nichts mitzureden haben“. Direkte Reaktionen der ÖH waren dazu nicht zu finden, eine Wortmeldung des (konservativen) Vorsitzenden Heinzpeter Thiel verdeutlicht aber die damalige ÖH-Positionierung: „Als Standesvertretung der österreichischen Hochschüler müssen wir doch der Auffassung sein, dass es nicht angeht, dass wir eine derartig große Anzahl an ausländischen Studierenden aufnehmen“, so Thiel 1965 in einem ORF-Interview. Geführt wurde das Gespräch wegen mangelnder Kapazitäten der Unis. Thiel forderte aber nicht den Ausbau des Uni-Budgets, der Infrastruktur oder der Lehre, sondern sprach sich stattdessen gegen Bildungsmigrant_innen aus. Die Hochschüler_innenschaft, so zeigt das Statement auf, verstand sich nur als Vertreterin der Mehrheitsösterreicher_innen. Zwei Jahre später stellte der VSStÖ erstmals Überlegungen zum verbandsinternen Wahlrecht für ausländische Studierende an. Sigrid Nitsch zufolge, die die Geschichte des VSStÖ aufgearbeitet hat, geben die Akten aber lediglich „einige Hinweise darauf [...], dass die damalige Verbandsführung [durch das] Wahlrecht für ausländische Verbandsmitglieder versuchte ihre Macht abzusichern“.

Im besagten Artikel des Wirtschaftshorizontes war ebenfalls das zyklisch wiederkehrende Thema des „katastrophalen“ Platzmangels an den österreichischen Universitäten Anlass für die journalistische Aufmerksamkeit für afroasiatische Studierende. In den Jahren des Wirtschaftsaufschwungs zwischen 1955 und 1965 hatte sich die Gesamtstudent_innenzahl mehr als verdoppelt, und auch Studierende aus Afrika und Asien waren – vor dem Hintergrund der Dekolonisation und der Frage nach Einflusssphären im Kalten Krieg – ein Stück weit mehr geworden: Nicht zuletzt weil sich Österreich aufgrund der Chance auf neue Wirtschaftsbeziehungen sowie neokoloniale und (antikommunistische) weltanschauliche Einflussnahme vermehrt für die postkolonialen afrikanischen und asiatischen Staaten interessierte, nahm man sich ab Ende der 1950er mit einem gewissen Engagement der afroasiatischen Studierenden an und unterstützte sie teils durch Stipendien. Geht es nach dem medialen Diskurs, so blieb dieses Engagement aber stets ambivalent. Die Anzahl der Student_innen aus Asien und Afrika war um einen vergleichsweise minimalen Anteil gestiegen, die fehlenden Kapazitäten an der Uni wurden dennoch – vermutlich weil sie ein ungewohntes Bild darstellten – über People of Colour verhandelt: Sie, diese lächerlich kleine Gruppe an Studierenden (5,7 Prozent), würden die Situation verschärfen.

RASSENTRENNUNG. Anlässlich dessen führte der Wirtschaftshorizont auch eine in den Ergebnissen aufschlussreiche und an manchen Stellen haarsträubende Umfrage unter mehr als 100 österreichischen Student_innen durch. „Soll sich der österreichische Staat bemühen, noch mehr Studenten aus den Entwicklungsländern an unsere Hochschulen zu bringen?“ 79 Prozent antworteten mit Nein. 53 Prozent gaben außerdem an, dass die Schwierigkeiten der afroasiatischen Studierenden bei ihnen selbst zu suchen seien, und: 39 Prozent der mehrheitsös- terreichischen Studierenden sprachen sich für die „Rassentrennung à la Südafrika“ aus.

Die Umfrage eröffnet einen Blick auf den rassistischen Diskurs um 1965 im Uniumfeld – also erschütternderweise jenem der Generation des Postnationalsozialismus. Gerade die große Anzahl der Apartheitsbefürworter_innen wiegt in Anbetracht der breiten, internationalen Verurteilung des Apartheits-Regimes ab 1960 schwer. Rassistische Annahmen und Rassismus legitimierende Aussagen zeigen sich aber auch im Umgang mit den Prozentzahlen. Die Kommentare des namentlich nicht genannten Redakteurs bleiben trotz Kritik meist abwägend oder verharmlosend: Die hohe Ablehnung sei vor allem auf „realistische Überlegungen“ zurückzuführen – eben wegen der „Überfüllung der Universitäten“. Auch an dieser Stelle erscheint das als schiefe Logik. Studierende, die sich für „Rassentrennung“ aussprechen, seien zudem, so der Wirtschaftshorizont weiter, nicht unbedingt „Rassenfanatiker“. Es könne sein, dass jemand „aus den verschiedensten Überlegungen eine solcherartige Maßnahme“ begrüßen würde – eine Bemerkung, die letztlich der Diskriminierung entlang der Hautfarbe Plausibilität zuspricht.

PRÄPOTENT. Nicht nur diese Umfrage ist in dem Artikel abgedruckt, auch afrikanische und asiatische Student_innen kommen zu Wort und geben darüber Aufschluss, wie schwierig es für Menschen nicht- weißer Hautfarbe im Österreich der 1960er gewesen ist. Ihre Statements erzählen von dem strukturellen, spezifisch zeitgenössischen Rassismus, mit dem sie im Alltag, in den Medien und bei der Wohnungssuche konfrontiert waren: Die meisten Studierenden aus Afrika und Asien fanden in den Studiheimen keinen Platz. Am privaten Wohnungsmarkt waren sie oft mit „keine Orientalen“-Aushängen oder horrenden Zimmerpreisen konfrontiert – dass jemand nicht weiß war, musste er/sie oft mit einem zigfachen Mietpreisaufschlag bezahlen. Die interviewten afroasiatischen Studierenden äußerten weiters Kritik an den österreichischen Studierenden – sie seien zurückhaltend und wenig gastfreundlich – und brachten zum Ausdruck, dass die Österreicher_innen paternalistisch und präpotent in Erscheinung traten. Die Arbeiter_innenschaft sei da wesentlich solidarischer gewesen. Schwarze Studierende bekamen es außerdem in der Straßenbahn zu spüren, wenn die Zeitungen von einem Massaker aus dem Kongo-Krieg berichteten.

Der Interviewteil mit Afrikaner_innen und Asiat_in- nen ist zugleich nicht sehr lang, in indirekter Rede verfasst und eingebettet in die Kommentare des Autors, der auch dort die Aussagen der Studierenden relativiert und die österreichische Seite in Schutz nimmt. Diskriminierungen legitimiert er etwa mit der (inzwischen oft widerlegten Annahme der) fehlenden kolonialen Involvierung Österreichs: „Ist die unkolonialistische Vergangenheit rein politisch von Vorteil, so bedingt dies andererseits eine geringe Aufgeschlossenheit des Österreichers gegenüber dem exotischen Äußeren der Asiaten und Afrikaner: Die große Welt mit ihrem unendlichen Horizont ist ihm einfach zu neu.“ Eine solche, damals wiederholt geäußerte Argumentation, die den Entwurf eines moralisch zwar überlegenen, jedoch hermetisch abgeschlossenen und unbedarften Österreichs zu erkennen gibt, ermöglichte es, rassistische Stereotype als harmlos zu beschreiben: Dahinter läge, so die Erklärung, nur Weltferne, und Stereotype seien aufgrund der „Exotik“ ja nur allzu verständlich.

Diese medialen Diskurse geben einen Einblick in eine Zeit, in der sich Österreich um die Präsenz afroasiatischer Studierender viel stärker bemühte als heute. Der strukturelle Rassismus wurde allerdings – trotz der Einmahnung eines guten Umgangs mit migrantischen Studierenden, schlug dieser ja die zukünftige wirtschaftliche Brücke zwischen Österreich und ihren Herkunftsländern – weder von Medien, die sich nach 1945 eigentlich der Demokratisierung und Aufklärung verschrieben hatten, noch von der ÖH deutlich kritisiert oder gar bekämpft.

Nun steigt die Zahl der Bildungsmigrant_innen aus Afrika (2013/14: 1.235) und Asien (10.582) in Österreich zwar wieder, die Bedingungen dürften sich indes vermutlich nicht grundlegend verändert haben. Eines ist allerdings sicher anders: 2011 gab es einen Stipendienstopp. Für Mariam Mamian Diakité von der 2012 gegründeten Vereinigung afrikanischer Studenten (VAS) ist die heutige staatliche Unterstützung zu wenig: „Österreich muss verstehen, dass es nicht nur in unserem Interesse ist, hier zu studieren.“ Stipendien würden nicht nur die gewünschte Internationalisierung stärken, sondern nach wie vor auch wirtschaftliche Vorteile bieten. Die Situation vieler sei prekär, selbst wenn nicht alle Studiengebühren zahlen – Ausnahmen gibt es etwa bei gewissen Aufenthaltsstati oder bei einer Herkunft aus Ländern, die als „am wenigsten entwickelt“ definiert werden. Man darf kaum arbeiten, zwischen zehn und 20 Stunden pro Woche sind möglich, je nachdem, ob man im Bachelor- oder Masterstudium ist. Die Unibürokratie und die Koppelung der Visa an den schnellen Studienerfolg stellen weitere schwierige Hürden dar. Die Probleme bei der Zimmersuche versucht die VAS mit einem Unterbringungsangebot auszugleichen, sie bietet außerdem Kurse an.

Bei der diesjährigen Wahl der Bundesvertretung gibt es wenige Spitzenkandidat_innen aus Drittstaaten. Zumindest rechtlich hat sich aber etwas geändert. In den kommenden Jahren könnte das dazu führen, dass das inzwischen stärkere antirassistische Bekenntnis der ÖH – nicht zuletzt symbolpolitisch – noch einmal kräftiger wird.

 

Paula Pfoser hat Kunst­ und Kulturwissenschaften an der Universität Wien studiert und ist Redakteurin bei MALMOE. 

 

Kühnengruß bei Pegida Wien 2.0

  • 20.04.2015, 12:40

Der Karlsplatz wurde am 19. April zum Schauplatz der zweiten Kundgebung des österreichischen Pegida-Ablegers. Das Gebiet um die Kundgebung wurde von der Polizei großflächig abgesperrt, um ein Zusammentreffen mit Gegendemonstrant_innen zu verhindern. Christopher Glanzl war für progress online mit seiner Kamera dabei.

Der Karlsplatz wurde am 19. April zum Schauplatz der zweiten Kundgebung des österreichischen Pegida-Ablegers. Das Gebiet um die Kundgebung wurde von der Polizei großflächig abgesperrt, um ein Zusammentreffen mit Gegendemonstrant_innen zu verhindern. Christopher Glanzl war für progress online mit seiner Kamera dabei.

Es waren circa 150 Pegida-Sympathisant_innen vor Ort, die sich im innersten Kern des Sperrgitterlabyrinths aufhielten, darunter auch viele Journalist_innen. Wieviele der Anwesenden zivile Einsatzkräfte waren wird wahrscheinlich wieder durch eine parlamentarische Anfrage zu klären sein. 

Aufgrund des tollen Sonntagswetters ließen die Pegida-Anhänger_innen erstmal auf sich warten. 

Nach mahnenden Einführungsworten bezüglich verbotener Grüße ...

... kamen die geladenen Gastredner aus der Schweiz und den Niederlanden zu Wort. 

Sie forderten dabei den NATO-Austritt Österreichs ...

... genauso wie den EU-Austritt, und wetterten gegen die Islamisierung. 

Die Polizei zeigte vier Mitglieder von Die Partei wegen Wiederbetätigung an. 

Als gegen Ende der schweizer Redner zum gemeinsamen Rütligruß aufrief, kam es bei den verbliebenen Teilnehmer_innnen auch zum Kühnen- beziehungsweise Hitlergruß. 

Die Polizei nahm von zwei Teilnehmern die Identitäten auf, ...

... einer wurde zur Vernehmung aufs Revier mitgenommen. 

Auf der Gegenseite kam es aufgrund von Verstößen gegen das Vermummungsverbot ...

... zu weiteren Amtshandlungen. 

Die Schatten der Polizei rücken aus. 

Interessierte Passant_innen beobachten das Geschehen aus der unmittelbaren Ferne. 

Auf der anderen Seite waren um die 700 Gegendemonstrant_innen versammelt, ... 

... die mit „Wirr ist das Volk“ gegen „Wir sind das Volk“ anschrien. 

Pegida-Anhänger_innen bekennen sich als Abtreibungsgegner_innen. 

Das Ende der Veranstaltung wurde von gröhlenden Pegida-Anhänger_innen mit „I am from Austria“ verkündet. 

„Das Unbekannte mit offenen Armen willkommen heißen“

  • 24.03.2015, 08:41

„Möchten Sie mit einem Asylbewerber Verstecken spielen?“ Dieser Tage kommt es vor, dass man auf dem Weg von der U-Bahn zum mobilen Stadtlabor der Technischen Universität angesprochen wird, um im Resselpark an einem besonderen Versteckspiel teilzunehmen. Hintergrund ist eine Performance im Rahmen des imagetanz 2015.

„Möchten Sie mit einem Asylbewerber Verstecken spielen?“ Dieser Tage kommt es vor, dass man auf dem Weg von der U-Bahn zum mobilen Stadtlabor der Technischen Universität angesprochen wird, um im Resselpark an einem besonderen Versteckspiel teilzunehmen. Hintergrund ist eine Performance im Rahmen des imagetanz 2015.

Unter dem Titel „Organized Disintegration“ gestaltet Núria Güell ein Versteckspiel im Resselpark. Die Künstlerin aus Barcelona widmet sich dabei Asylsuchenden in Österreich und ihrer Position am Arbeitsmarkt. Es geht um Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit dieser Personen, eben: hide & seek, wie das Versteckenspiel im Englischen heißt.

ARBEITSMARKT. Die rechtliche Lage von arbeitssuchenden Asylsuchenden ist verstrickt und kompliziert. Peter Marhold von helping hands hat versucht, einen Leitfaden für genau diese Problematik anzufertigen und musste einsehen, dass selbst erfahrene Jurist*innen ihm dabei nicht helfen konnten. Zu ungenau seien die diesbezüglichen Gesetze. Im Grunde läuft es darauf hinaus, dass am Arbeitsmarkt kein Platz für Asylsuchende ist.

Anstellungsverhältnisse sind illegal. Es gibt mit einer speziellen Erlaubnis die Möglichkeit nach drei Monaten Aufenthalt im Land Saisonarbeit im Tourismusbereich oder in der Landwirtschaft zu verrichten. Der einzige sonstige Ausweg ist die Selbstständigkeit, wodurch prekäre Verhältnisse vorprogrammiert sind. Nur über Werkverträge dürfen Asylsuchende längerfristig Geld verdienen.

Foto: Eva Ludwig-Glück Brut Wien

UNGLEICHE MACHTVERTEILUNG. Núria Güell musste sich für ihr Projekt auch hauptsächlich mit rechtlichen Gegebenheiten auseinandersetzen. Das Festival für Choreografie, Performance und unheimliche Körper zeigt mit diesem Spiel die eindeutige Machtverteilung. Asylwerber*innen verstecken sich, Passant*innen und Festivalbesucher*innen können dann nach ihnen suchen.

Asylsuchende sind es gewohnt, sich innerhalb der Gesellschaft unsichtbar machen zu müssen. Die Praxis am Arbeitsmarkt ist nur eins von vielen Beispielen, die diese Fähigkeit erfordern. Das Resultat daraus ist Abschottung, Kriminalisierung und Langeweile. Amine, der auch schon beim Refugee Protest Camp mitgewirkt hat, beschreibt die fehlende Tagesstruktur und das lange Warten als extrem zermürbend. Er ist überzeugt, dass die Gesetzgebung Asylsuchende dazu bringt, den Prozess des Asylantrags frühzeitig abzubrechen und aufzugeben.

ÖFFNUNG DES ARBEITSMARKTES. Alexander Pollak, Sprecher von SOS Mitmensch, sieht in dieser Causa dringenden Handlungsbedarf. Der Arbeitsmarkt müsse unbedingt geöffnet werden, zumindest aber nach drei Monaten Aufenthalt. Das fordert er auch für Ausbildungen. Das emotional aufgeladene Thema wird immer wieder von Politiker*innen instrumentalisiert. Nicht zuletzt, da sehr viele Österreicher*innen ebenfalls einen Job suchen. Die Meinung, dass eine Öffnung des Arbeitsmarktes einen zahlenmäßigen Anstieg der Asylsuchenden in Österreich bedeuten würde, hält sich hartnäckig. Gleichzeitig wären Abschiebungen schwieriger.

Foto: Eva Ludwig-Glück Brut Wien

Den Asylwerber*innen geht es nicht nur um das Geld, das sie potentiell verdienen würden. Sie haben ein Gefühl der Sinn- und Zwecklosigkeit. Berichte aus Traiskirchen bezeugen immer wieder, dass Langeweile und Ziellosigkeit psychisch erdrückend sind. Umso mehr freuen sich die Asylsuchenden, die an „Organized Disintegration“ teilnehmen, über die Möglichkeit Kontakt zu Mitmenschen zu finden und über ihr Anliegen zu informieren.

ZWISCHENWELT. Das mobile Stadtlabor vor der TU ist wie gemacht dafür, Ausgangs- und Treffpunkt des Spiels zu sein. Das Gebilde aus Seecontainern ist eine öffentliche Intervention zwischen U-Bahn-Station und Universitätsgebäude. Es ist temporär und mobil. Die einzelnen Stücke hatten in ihrem früheren Dasein ganz andere Aufgaben: Sie transportierten die verschiedensten Konsumgüter von A nach B, bevor sie schließlich im Resselpark landeten. Man könnte sagen, sie sind gestrandet. Genauso fühlen sich auch viele Asylsuchende in Wien. Sie befinden sich in einer Zwischenwelt, leben oft gezwungenermaßen parallel zur Mehrheitsgesellschaft. Sie müssen sich die Zeit bis zum Asylbescheid vertreiben und versuchen neben der Jobsuche ihre Chancen zu erhöhen, indem sie zum Beispiel Deutsch lernen oder sich andere Fähigkeiten aneignen.

RASSISMUS. Das Hauptproblem neben der unübersichtlichen rechtlichen Situation in Österreich ist der hier institutionalisierte Rassismus. Außerdem werden die wenigen Jobs, die tatsächlich an Asylsuchende herangetragen werden, an diejenigen vergeben, die sie für den niedrigsten Lohn machen. Bei Werkverträgen gibt es keinen Mindestlohn – es zählt nicht die Zeit, die für die Tätigkeit aufgebracht werden muss, sondern lediglich das „Werk“.

Ob Núria Güell einen Weg gefunden hat, diese Gesetze zu unterwandern? Ihre klare Antwort lautet: nein. Genau deswegen hat sie das Projekt „Organized Disintegration“ umgesetzt. Die unfairen Gesetze kann man nicht durch einen einfachen Trick umgehen. Man solle politisch aktiv werden und mit Asylwerber*innen arbeiten. Jede*r kann sie auf Werkvertragsbasis beschäftigen, solange die Gesetze der „Neuen Selbstständigkeit“ eingehalten werden, doch das reicht nicht. Es fehlt ein Bewusstsein dafür, dass Arbeit ein wichtiger Bestandteil des menschlichen Selbstwertgefühls ist. Güells Aufgabe ist erfüllt, wenn sie einige wenige Leute auf die Lebensrealitäten von Asylsuchenden aufmerksam macht.

 

Katja Krüger ist Unternehmerin und studiert Gender Studies an der Universität Wien.

8 Monate

  • 23.03.2015, 20:55

Rassistische Skandale, Misshandlungen, Eskalation und Repression, die Beobachter_innen und Zeug_innen trifft: eine Bestandsaufnahme österreichischer Polizeigewalt.

Rassistische Skandale, Misshandlungen, Eskalation und Repression, die Beobachter_innen und Zeug_innen trifft: eine Bestandsaufnahme österreichischer Polizeigewalt.

Der damals 20-jährige Student Alex Plima* wollte gerade bei einem Würstelstand nahe einer Wiener U-Bahn-Station Schottentor Bier kaufen, als er Zeuge einer gewaltvollen Verhaftung wurde. Mehrere WEGA-Beamt_innen schleiften einen Mann, der nicht bei vollem Bewusstsein war und am Kopf blutete, die Treppen hoch. Alex stellte sich vor sie und schrie, um Passant_innen auf die Situation aufmerksam zu machen. Mehrmals forderte er die Beamt_innen auf, den Verhafteten ins Krankenhaus zu bringen und ihn ärztlich versorgen zu lassen. Angriffig, beleidigend oder gewalttätig wurde er aber nicht. Die Reaktion der Beamt_innen war für ihn überraschend und unerwartet aggressiv. „Von hinten hat mir ein Polizist die Hoden gequetscht. Nachdem ich ihn fragte, was das soll, wurde ich von sechs WEGA-Polizist_innen festgenommen. Auf meine Frage nach dem Grund für die Festnahme erhielt ich keine Antwort.“ Trotz Verhaftung wurde er jedoch nicht in Untersuchungshaft genommen. Erst ein halbes Jahr später erhielt er einen Brief, in dem er darüber informiert wurde, dass er wegen drei Vergehen angeklagt wird: Widerstand gegen die Staatsgewalt, Körperverletzung und schwere Körperverletzung. Grund dafür sei ein wildes Herumschlagen seinerseits gewesen. Alex beteuert, nie Gewalt angewendet zu haben.

Eine Beschwerde wegen des Verhaltens der Polizei legte Alex jedoch nicht ein: „Du hast nur wenig bis keine Chance, dass dir Recht gegeben wird. Ich bin mir so ohnmächtig vorgekommen, weil sich die Polizist_innen so skrupellos über das Rechtssystem hinweggesetzt haben. Außerdem hätte es Energie, Zeit und Geld gekostet eine Beschwerde einzureichen und ich hatte nichts davon, weil ich mitten in der Vorbereitung für meine Studienberechtigungsprüfung steckte.“ Bei einer sogenannten Maßnahmenbeschwerde tragen von Polizeigewalt Betroffene ein Kostenrisiko von zirka 800 bis 900 Euro. Dass Personen, die eine Beschwerde einlegen, das Verfahren verlieren, ist statistisch eher die Regel als die Ausnahme. Nur zirka 10 Prozent der Misshandlungsvorwürfe werden überhaupt verhandelt.

„Rechtsschutz ist eine Frage der Ökonomie“, fasst die Verfassungsjuristin Brigitte Hornyik diesen Zustand zusammen. Sie legte kürzlich Maßnahmenbeschwerde gegen das Vorgehen der Polizei während der ersten Pegida-Kundgebung in Wien ein. „Eingekesselt wurden alle, auch Personen mit Presseausweis. Diese Freiheitsberaubung – wir wurden einzeln kontrolliert, Identitätsfeststellung, Perlustrierung – geschah frei nach US-Cop-Serien: Beine auseinander, Hände an die Wand! Die gesamte Aktion war einfach nur willkürliche Polizeirepression. Es hatte ja niemand von uns irgendwas verbrochen.“ Das wollte Hornyik nicht unwidersprochen lassen. Sie überlegt, bei Abweisung bis zum Verfassungsgerichtshof zu gehen. Sie ist sich aber ihrer Privilegien bewusst: „Das Institut für Kriminalsoziologie hat in den 80er Jahren eine Studie gemacht, welche Menschen ihr Recht am meisten verfolgen und welche am wenigsten: Akademisch gebildete Menschen männlichen Geschlechts standen ganz oben auf der Skala, Hausfrauen und Alleinerzieherinnen ganz unten – Rechtsschutz hat also auch eine geschlechtsspezifische Komponente.“

KEINE BEDAUERLICHEN EINZELFÄLLE. In den Sicherheitsberichten des Bundesministeriums für Inneres werden unter dem Punkt „Misshandlungsvorwürfe gegen Organe der Sicherheitsbehörden und ähnliche Verdachtsfälle“ Beschwerden gegen Polizist_innen statistisch erfasst und offengelegt. In den letzten zehn Jahren gingen 8.958 solcher Vorwürfe ein. Davon wurden ganze 8.004 Verfahren eingestellt.

Die hohe Zahl an Beschwerden und die vergleichsweise kleine Verfahrensanzahl wird wie folgt verteidigt: „Bei dieser Auswertung muss berücksichtigt werden, dass […] in einer überwiegenden Anzahl der angezeigten Fälle geringfügige Verletzungen beispielsweise durch das Anlegen von Handfesseln oder den Einsatz von Pfeffersprays eintrat (sic!) – zum Teil ohne dass ein Misshandlungsvorwurf gegen das einschreitende Organ erhoben wurde.“ Aufschlussreich ist die Tatsache, dass Verletzungen durch die Verwendung von Handfesseln und Pfefferspray als geringfügigbezeichnet werden, obwohl Pfefferspray in Österreich offiziell als Waffe gilt, die nur zur Notwehr eingesetzt werden darf, und jemanden zu fesseln als Nötigung.

„Ich denke, dass in einigen Fällen an den Vorwürfen gegen Polizist_innen tatsächlich nichts dran ist, sondern sich von Amtshandlungen Betroffene subjektiv ungerecht behandelt fühlen und sich über die Beamt_innen beschweren, obwohl die ihren Job korrekt gemacht haben“, sagt Anwalt Clemens Lahner, der unter anderem im Landfiredensbruchsprozess gegen Josef S. und im Fluchthilfeprozess gegen mehrere Aktivisten der Refugee-Bewegung Verteidiger war. Nun: Das 1989 gegründete „European Committee for the Prevention of Torture“, kurz CPT, kritisiert seit seinem Bestehen die Bedingungen der österreichischen (Schub-)Haft und die Zustände in Wachzimmern sowie Gefängnissen. Sogar bei absoluten Grundlagen sieht das CPT in Österreich Nachholbedarf und forderte etwa 1994 die österreichischen Behörden auf, in der Praxis den Haftbericht allgemein zu verwenden und richtig auszufüllen. Die Stellungnahme der Regierung: „Das richtige und vollständig (sic!) Ausfüllen der Haftberichte ist und wird Gegenstand der berufsbegleitenden Fortbildung sowie interner Schulungen sein.“ Im aktuellsten Bericht von 2010 wünscht sich das CPT von der österreichischen Regierung, „Polizeibeamte in ganz Österreich in regelmäßigen Abständen daran zu erinnern, dass jede Form von Misshandlung (z.B. auch Beschimpfungen) von Häftlingen nicht akzeptabel ist und Gegenstand strenger Sanktionen sein wird“. Sind die Festgenommenen einmal unter Kontrolle gebracht, gäbe es keinen Grund, sie zu schlagen. Lahner führt aus: „Gerade in Situationen, wo Gedränge und Lärm herrschen und die Beamt_innen eine Menschenmenge subjektiv pauschal als feindlich wahrnehmen, liegen die Nerven oft blank. Es kommt zu unverhältnismäßigen Einsätzen und bei Festnahmen werden Menschen oft am Boden fixiert, obwohl das gar nicht nötig wäre.“

Weiters kritisierte das CPT die niedrigen Strafen für straffällig gewordene Polizist_innen und rief angesichts bisheriger Fälle dazu auf, die Straftat „Folter“ so bald wie möglich in das Strafgesetz aufzunehmen, was Ende 2012 dann auch geschah. Schon 1991 schrieb das CPT über Österreich: „There is a serious risk of detainees being ill-treated while in police custody.“ 1999 erstickte der Nigerianer Marcus Omofuma während seiner Abschiebung in einem Flugzeug; 2006 wurde der Gambier Bakary J. von drei Polizisten nach einer gescheiterten Abschiebung in eine leere Lagerhalle gebracht und schwer misshandelt. 2009 erschoss ein Kremser Polizeibeamter einen unbewaffneten 14-jährigen. In allen drei Fällen fassten die Hauptangeklagten nur acht Monate Haft aus, Entlassungen folgten erst viele Jahre später oder gar nicht. Seit 1999 wurden mindestens acht Fälle bekannt, bei denen Schwarze Männer bei Festnahmen oder in Polizeigewahrsam gestorben sind. People of Color, Migrant_innen, Demonstrant_innen, Sexarbeiter_innen, Obdachlose, drogenabhängige und sozial schwache Menschen sind laut sämtlichen NGOs überdurchschnittlich von Polizeigewalt betroffen.

BESCHWERDE? GEGENANZEIGE! Dina Malandi berät beim Verein Zara (für „Zivilcourage und Anti-Rassismus-Arbeit“) Betroffene und Zeug_innen von Rassismus und dokumentiert im jährlich erscheinenden Rassismusreport auch Fälle rassistischer Polizeigewalt. Besonders körperliche Übergriffe seien schwierig nachzuweisen. Sollte man es doch versuchen, muss man mit einer sofortigen Gegenanklage wegen schwerer Körperverletzung rechnen. „Es wird schnell einmal gesagt, dass schwere Körperverletzung vorliegt. Diese Schutzbehauptung wird getätigt, um einer Beschwerde entgegenzuwirken. Jede kleinste Verletzung auf Seiten der Polizist_innen – ein Kratzer oder ein blauer Fleck – sind von Rechts wegen schon schwere Körperverletzung. Hier findet eine Täter-Opfer-Umkehr statt.“

Aber auch Zeug_innen und Beobachter_innen mit Zivilcourage erfahren, wie etwa Alex’ Fall zeigt, massive Repression. Mit Geld- und Verwaltungsstrafen oder auch Verhaftungen wird es Menschen schwer gemacht, bei Übergiffen einzuschreiten, auf Missstände aufmerksam zu machen oder auch nur eine Demonstration, einen Einsatz oder eine Festnahme zu beobachten.

Maria Nym* saß an einem Freitagabend in einem Lokal, als sie vor dem Fenster eine Festnahme bemerkte. Sie versuchte, die gewaltsame Festnahme zu beobachten und ließ sich auch nicht durch Beleidigungen, Drohungen und physische Übergriffe durch die Polizei einschüchtern oder vertreiben. Nun werden ihr vier Verwaltungdelikte vorgeworfen: „öffentliche Anstandsverletzung“, „ungebührliche Erregung störenden Lärms“, „aggressives Verhalten gegenüber einem Organ der öffentlichen Aufsicht“ und Nicht-auf-dem-Gehsteig-Gehen. Die Höhe der Strafe: 350 Euro. Diese könnte sie zwar zahlen, aber sie hätte dann kein Geld mehr für die Miete. Deswegen legte Maria nun Einspruch ein und hofft darauf, dass die Strafe heruntergesetzt oder ganz fallen gelassen wird.

Dass nur wenigen, die wie Maria gegen Polizeigewalt und Schikane vorgehen wollen, Recht gegeben wird, liegt oft daran, dass die eigene Aussage gegen jene mehrerer Polizist_innen steht. „Unter den Polizist_innen gibt es nicht unbedingt den Willen, gegen Kolleg_innen auszusagen. Da herrscht noch oft eine falsch verstandene Solidarität“, so Dina Malandi. Das kann sich verheerend für die Person auswirken, die die Maßnahmenbeschwerde eingereicht oder Anzeige erstattet hat. Sobald Verantwortliche durch Kolleg_innen gedeckt werden, kann der_die Betroffene auch wegen Verleumdung angeklagt werden – statistisch gesehen passiert dies in fast vier Prozent der Fälle. Laut Malandi sind dies wesentliche Gründe dafür, dass viele Betroffene erst gar nicht Beschwerde einreichen. Die Dunkelziffer dürfte dementsprechend hoch sein.

FUCK THE SYSTEM. Diese „Cop-Culture“ zu brechen, sieht auch Florian Klenk als eine der wichtigsten Aufgaben im Rahmen der Polizeigewaltprävention: „Es braucht eine Beförderungsstruktur, die BeamtInnen, die auf Misstände hinweisen, belohnt. Momentan ist es noch so, dass jemand, der oder die seine Kollegen und Kolleginnen kritisiert oder verpfeift, absolut unten durch ist.“ Gerade machte Klenk einen Fall bekannt, bei dem eine 47-jährige Frau zu Silvester bei einer Tankstelle der Wiener Innenstadt offenbar ungerechtfertigt wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt festgenommen und misshandelt worden ist. Steißbeinbruch, Schädelprellungen und Blutergüsse: für ihre Verletzungen oder für die Sicherstellung der Videobeweise nach der Anzeige der Frau interessierte sich die Staatsanwaltschaft vorerst nicht.

Der Falter-Chefredakteur und Jurist, der seit den 90ern investigativ über Missstände in österreichischen Gefängnissen und bei der Exekutive berichtet, meint, es habe sich aber seit damals auch einiges getan. Brigitte Hornyik dazu: „Der Polizei sind durch das Sicherheitspolizeigesetz nach wie vor sehr weitreichende Befugnisse eingeräumt. Vor 1991 war das noch schlimmer. ´Übergangsbestimmungen von 1929 waren oft die einzige Grundlage polizeilichen Handelns.“

Trotzdem kritisiert Klenk (genau wie das CPT und der Menschenrechtsbeirat der Volksanwaltschaft) die immer zunächst schleißig und intern angestellten Nachforschungen: „Es muss endlich eine unabhängige Stelle geben, die für Beschwerden gegen die Exekutive zuständig ist.“ Alle von progress kontaktierten Expert_innen sind sich übrigens einig, dass eine Kennzeichnungspflicht für Polizist_innen (etwa eine sichtbar an der Uniform angebrachte Dienstnummer) sowie am Körper angebrachte Kameras bei der Gewaltprävention aber auch bei der Aufklärung extrem hilfreich wären. Doch dagegen wehrt sich die Polizeigewerkschaft vehement. „Die blau unterwanderte Polizeigewerkschaft stellt sich leider allzu oft auf die Seite der schwarzen Schafe und diskreditiert damit die Arbeit der korrekten Polizistinnen und Polizisten. Sie ist Teil eines Systems des Schweigens und Verharmlosens. Wie in der RichterInnenschaft sollte auch bei der Polizei Äquidistanz zu politischen Parteien herrschen“, meint Klenk.

Zudem sähen Richter_innen und Staatsanwält_innen die Polizei als Verbündete im Kampf gegen das Verbrechen und wähnten einander trotz Gewaltenteilung auf derselben Seite, sagt Klenk. „Sie poltern zwar manchmal im Gerichtssaal, verhängen dann aber sehr milde Strafen. Man soll sich nur vorstellen, was zwei Nigerianer ausfassen würden, wenn sie einen Polizisten so gefoltert hätten wie es Bakary geschah.“ Verschwindend niedrig ist die Zahl der Polizist_innen, die nach einer Anklage überhaupt schuldig gesprochen werden. In den letzten zehn Jahren, von 2004 bis 2013, waren das insgesamt 13 Beamt_innen.

Im Fall von Edwin Ndupu, der von 15 Justizwachebeamten verprügelt worden war und kurz darauf in der Justizanstalt Krems/Stein starb, gab es sogar Anerkennung:  Laut Falter 41/04 lud Justizministerin Miklautsch Anfang Oktober 11 der 15 an dem Einsatz beteiligten Justizbeamten zu sich ins Ministerium ein. Da die 11 Beamten bei dem Einsatz mit dem Blut des HIV-positiven Häftlings in Berührung gekommen waren, erhielten sie 2.000 Euro Schadensersatz.

Brigitte Hornyik meint, dass diese Zusammenarbeit zwischen Justiz und Exekutive kein Zufall sei: „Für mich ist das Ausdruck eines autoritären und hierarchischen Denkens: Die Staatsgewalt braucht eben Repression, um an der Macht zu bleiben. Letztlich sind das Ausläufer des Absolutismus und des Metternich’schen Überwachungsstaates.“

Zusammengefasst: Die Polizei handelt (nicht selten) gewaltsam. Es gibt keine unabhängigen Untersuchungsgremien bei Streitfällen. Sich zu wehren oder zu beschweren ist ein finanzielles, rechtliches und gesundheitliches Risiko. Die Justiz stärkt gewalttätigen und straffälligen Polizist_innen den Rücken, die Politik weigert sich zu handeln, obwohl internationale Gremien seit Jahrzehnten warnen und mahnen. Der längere Ast, auf dem die Staatsgewalt sitzt, ist ein Prügelknüppel. „Trotzdem würde ich vorschlagen, an diesem längeren Ast zu sägen und die Rechtmäßigkeit des polizeilichen Handelns in Frage zu stellen“, sagt Brigitte Hornyik. „Durchaus mit Hilfe der Gerichte, so lange wir noch nichts Besseres haben.“

*Name von der Redaktion geändert.

 

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Uni Wien. 
Olja Alvir studiert Physik und Germanistik an der Uni Wien.

 

Zeitreisende Ethno-Waschmaschinen

  • 05.02.2015, 08:00

Wie und woran wir uns erinnern, wird nachhaltig von Medien geprägt. Durch sogenanntes Whitewashing werden die Geschichten von People of Color ausradiert.

Wie und woran wir uns erinnern, wird nachhaltig von Medien geprägt. Durch sogenanntes Whitewashing werden die Geschichten von People of Color ausradiert.

Wieder einmal erhitzt ein Spielfilm aus Hollywood die Gemüter. „Exodus“ von Ridley Scott scheint mit der Besetzung seiner millionenschweren Verfilmung von Moses Geschichte im alten Ägypten einen Nerv der heutigen Zeit getroffen zu haben – im negativen Sinne. Denn während Prophet, Pharao und Götter von weißen Menschen gespielt werden, werden – surprise surprise – Sklav*innen, Dieb*innen und Mörder*innen von schwarzen Schauspieler*innen verkörpert.

Es ist nicht nur rassistisch, dass Held*innen hier Weiße und Antiheldi*innen Schwarze sind. Zusätzlich ist der im antiken Ägypten angesiedelte Streifen das beste Beispiel für eine problematische Praxis, welche in Geschichte, Kunst und Kultur häufig aufzufinden und dem Begriff „Whitewashing“ unterzuordnen ist. Whitewashing bezieht sich in erster Linie auf historische Persönlichkeiten dunkler Hautfarbe (hier etwa Moses und der Pharao), die in der Geschichtsschreibung und dadurch in der kollektiven Erinnerung aber als weiße Menschen aufscheinen. Klassische Bespiele dafür sind etwa der Nikolaus, Maria Muttergottes und Jesus himself. Dieser wird in Erzählungen, Filmen und Abbildungen stets als hellhäutiger Mann mit blauen Augen und blonden bis dunkelblonden Haaren dargestellt. Geographisch und historisch gesehen müsste Jesus von Nazareth aber einen dunklen Hauttyp haben, mit braunen Augen und dunklem Haar. Der historische Nikolaus von Myra soll im dritten und vierten Jahrhundert unserer Zeitrechnung auf dem Gebiet der heutigen Türkei Süßigkeiten verteilt haben. Es ist sehrunwahrscheinlich, dass Sankt Nikolaus helle Haut hatte. Trotzdem werdender „Nikolo“ und der an ihn angelehte Weihnachtsmann immer als weiße Männer dargestellt.

ROLL OVER BEETHOVEN. Jesus und der Nikolaus sind alte Hasen, was die Schwarz-Weiß Diskussion betrifft. Schenkt man einigen historischen Quellen Glauben, so wurde auch beim bekannten Ludwig van Beethoven Whitewashing betrieben. Beethoven, 1770 in Bonn geboren und 1827 in Wien gestorben, eines der größten Musikgenies der Klassik, soll dunkelbraune bis schwarze Haut gehabt haben. Sämtliche Biograph*innen und Anthropolog*innen, die den Deutschen getroffen haben, beispielsweise Frederik Hertz, Emil Ludwig oder Fanny Giannatasio del Rio, beschreibenBeethoven als dunkelhäutigen Mann mit abgeflachter Nase, kleinen dunklen Augen und breitem Mund. Auch der österreichische Schriftsteller Franz Grillparzer bezeichnet Beethovens Hautton als „braun“. Andere schreiben über sein krauses schwarzes Haar, welches an den Seiten meistens abstand. Diese Beschreibung könnte auf einen dezenten Afro verweisen.

Der Name Beethoven kommt aus Flandern. Das Gebiet wurde bis zur Errichtung des Königreichs Belgien 1830 abwechselnd von vielen verschiedenen Häusern regiert, unter anderem den spanischen Habsburgern. Die Mauren, eine nordafrikanische Volksgruppe, prägten die spanische Gesellschaft und Architektur seit Anfang des achten Jahrhunderts. Beethoven hätte väterlicherseits maurischer Abstammung sein können.

Apropos Musik: Hier werden beispielsweise Elvis, Jerry Lee Lewis, die Beatles oder die Rolling Stones als Könige, Erfinder und Perfektionierer des Rock ’n’ Roll gefeiert, obwohl das Genre auf die Musik der schwarzen Community in Nordamerika zurückgeht und lange vor Elvis schwarze Musiker*innen wie die (übrigens bisexuelle) „Godmother of Rock ’n’ Roll“ Rosetta Tharpe, Chuck Berry, LaVern Baker und Ray Charles den damals neuen Stil prägten.

Auch zahlreiche innovative Errungenschaften, die unser Leben bereichern, kommen von People of Colour (PoC). Trotzdem werden diese Erfinder*innen und Wissenschaftler*innen nursehr selten in Medien oder Schulbüchern erwähnt. Sie scheinen nur als Sklav*innen Geschichte schreibenzu dürfen. „Die Sklaverei begründet den materiellen Vorsprung Europas gegenüber anderen Erdteilen. Eine Darstellung von People of Colour, die bedeutende wissenschaftliche oder politische Erkenntnisse produzierten oder eine besondere Machtstellung innehatten, hätte dieses Monopol gefährdet“, erklärt Hanna-Maria Suschnig, Geschichtsdidaktin an der Universität Wien, die Problematik von Whitewashing in der Wissenschaft.

Das Ampelsystem oder die Gasmaske zum Beispiel wurden vom afro-amerikanischen Erfinder Garret Morgan entwickelt. Der Sohn von befreiten Sklaven ließ sich 1914 das Patent für seine Gasmaske ausstellen. Eine andere Erfindung, die weltweit unzählige Menschenleben gerettet hat, ist die Blutbank. Sie wurde 1930 vom Afro-Amerikaner Charles Drew entwickelt, der später auch Direktor von Blutbanken des Roten Kreuzes war, in der Geschichtsschreibung jedoch keinen Platz fand. Und wer gerade darüber nachdenkt sich einen 3D-Fernseher zuzulegen, sollte Valerie Thomas gedenken: Die NASA-Wissenschaftlerin war eine der ersten, die sich in den 60ern mit der Projektion und übertragung dreidimensionaler Bilder beschäftigte.

POSTKOLONIALISMUS IN 3D. Durch „Exodus“ wurde erneut international eine Debatte über Whitewashing losgetreten. Aufmerksamkeit erhielt das Thema vor allem durch den Hashtag #boycottexodusmovie. Davor klärten Blogs wie stopwhitewashing. tumblr.com darüber auf, in welcher Form Diskriminierung und Rassismus immer noch im Entertainmentbereich vorzufinden sind. „Exodus“ beraubt ägyptische und israelitische Menschen ihrer Geschichte setzt damit eine lange Tradition fort. Schon frühe HollywoodIkonen wie Katherine Hepburn („Dragon Seed“, 1944) oder Elizabeth Taylor („Cleopatra“, 1963) mimten Frauen, welche andere ethnische Backgrounds oder Hautfarben hatten; heute sind zum Beispiel der nicht besonders per- sische Jake Gyllenhaal als „Prince of Persia“ und Ben Affleck als Latino Tony Mendez („Argo“) zu sehen.

Minderheiten werden im Schauspielbusiness häufig nur für klischeehafte Rollen gecastet: als Terrorist*innen, Mörder*innen, Drogendealer*innen oder Sklav*innen. Wenn Rollen für Figuren mit einem bestimmten (ethnischen) Hintergrund oder einer gewissen Hautfarbe ausgeschrieben werden, werden trotzdem oft nur weiße Darsteller*innen gecastet, obwohl es genügend qualifizierte Anwärter*innen gibt, die sich auch tatsächlich mitdem Charakter identifizieren könnten. Aber viele Regisseur*innen und Produzent*innen wollen es mit ihren Filmen bis zu den Oscars und den Geldbörsen der Kinobesucher*innen schaffen und beteuern, Nicht-Weißein Hauptrollen zu casten, bedeute ein wirtschaftliches Risiko für die Filmstudios. Eine solche Entscheidung schmälert die Chancen auf einen der begehrten Filmpreise. Unter die Oscar-Nominierten in den Hauptkategorien etwa schafften es heuer ausschließlich weiße Schauspieler*innen, obwohl nicht nur im hochgelobten Historiendrama „Selma“ über die Emanzipationsbewegung rund um Martin Luther King genügend Kandidat*innen auszumachen wären. Diese Ungleichheit macht es wiederum schwieriger für People of Color, im Filmbusiness Anerkennung zu bekommen und auf andere junge Menschen vorbildhaft zu wirken: ein Teufelskreis.

People of Color werden also – wie diese Beispiele zeigen – seit Jahrhunderten entweder weißen Menschen hierarchisch untergeordnet, exotisiert und/oder durch Whitewashing ihrer Identität beraubt. Um dem entgegenzu wirken, bräuche es eine sensiblere Geschichtsschreibung. Laut Suschnig sollte sich neben der Schule auch die Wissenschaft das kollektive Erinnern zur Aufgabe machen, indem Whitewashing in Ausbildungen thematisiert wird. „In manchen Ländern gibt es den Black History Month, in den USA wird der Martin Luther King Day gefeiert, das sind erste Ansätze“, findet die Hochschulreferentin für Fachdidaktik.

HISTORISCH AKKURAT. Auch im Netz bilden sich immer mehr Initativen, die gezielt gegen Whitewashing vorgehen. Der Blog medievalpoc.tumblr.com zeigt mittelalterliche Gemälde und Illustrationen, auf denen PoC zu sehen sind. Das Bildarchiv, das mittlerweile zu einer riesigen Fundgrube angewachsen ist, kämpft gegen das retroaktive Whitewashing, denn Bilder mit PoC werden in Museen, Schulklassen oder Kunststudien nur selten gezeigt. Außerdem sollen die Bilder Argumente gegen die Fiktion, das mittelalterliche Europa sei nur von weißen Menschen bewohnt worden, liefern. Die historischen Abbildungen zeigen sehr deutlich, dass PoC vonder Antike bis zur Neuzeit in sämtlichen gesellschaftlichen Schichten und in allen Ländern Europas vertreten waren und auch abgebildet wurden. Auch die vielbeschworene angebliche „historische Akkuratheit“ in Mittelalter- und Fantasyfilmen soll so als weiße Fantasie dekonstruiert werden. Wenn in „Herr der Ringe“ nur Weiße mitspielen, liegt das am internalisierten Rassismus des Autors und des Regisseurs, nicht etwa an der tatsächlichen Anlehnung an die europäische Geschichte, wie gerne behauptet wird. Im Kontrast dazu bietet medievalpoc auch immer wieder Büchertipps: Hier werden Sci-Fi- und Fantasy-Romane von PoC-Autor*innen und/oder mit PoC-Charakteren vorgestellt, um der medialen überrepräsentation weißer Autor*innen und Charaktere entgegen zu wirken.

„Homestory Deutschland“ heißt ein langjähriges Projekt der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) für das Erinnern an Leistun-gen schwarzer Menschen. Es ist eine seit zehn Jahren durch Deutschland wandernde Ausstellung, die mit historischen Portraits schwarzer Menschen mahnen möchte, dass „schwarze Menschen in Mitteleuropa nicht erst seit den 1980ern existieren“, wie Tahir Della vom ISD es ausdrückt. Da wäre beispielsweise der Philosoph Anton Wilhelm Amo aus dem 18. Jahrhundert, der erste Afrikaner, der an einer europäischen Universität promovierte. Oder Martin Dibobe, Vertreterder Community von Kamerunern in Deutschland, der schon 1919 für Anerkennung und Gleichstellung kämpfte.

„Unseren Erfahrungen mit dem Projekt nach sehen viele junge schwarze Menschen hier tatsächlich zum ersten Mal gesellschaftliche, wissenschaftliche und künstlerische Beiträge von Schwarzen in Europa“, erzählt Della. „Das ist wichtig, denn wenn deine Geschichte systematisch ausgeblendet wird, hast du auch Schwierigkeiten bei Identitätsfindung und Identifizierung.“ Die Geschichte von schwarzen Menschen in Deutschland beziehungsweise Zentraleuropa werde ignoriert, was dazu führe, dass es kein kollektives Bewusstsein dafür gebe. Della erklärt, dass das Ausradieren der Geschichte von People of Color auf die Kolonialgeschichte Europas zurückgeht:„Die Negation der Leistungen einer Menschengruppe ermöglicht eine Stigmatisierung, die wiederum zu Diskriminierung führt.“ Das Thema Whitewashing solle breiter politisch diskutiert werden, immerhin handle es sich dabei um eine „Verfälschung von Geschichte“.

Nour Khelifi studiert Publizistik und Kommunikationswissenschaft und Biologie an der Universität Wien.

 

Nicht willkommen

  • 04.02.2015, 14:44

Während sich etwa 350 AnhängerInnen der islamfeindlichen Bewegung Montag Abend vor der Freyung zusammenfinden, marschieren 5000 GegendemonstratInnnen von Museumsquartier bis Stephansplatz. Nach Auflösung der Pegida-Kundgebung, die durch rechtsextreme Ausfälle geprägt ist, kommt es beim Schottentor zu Zusammenstößen zwischen "patriotischen Europäern", GegendemonstrantInnnen und Polizei.

Postkolonial sind wir noch lange nicht

  • 02.12.2014, 15:30

Wer ist eigentlich Deutsche_r, wer Berliner_in? Wer schreibt Geschichte und wer gestaltet sie? Wer ist sichtbar und wer nicht? Wessen Erleben erhält Aufmerksamkeit und Raum?

Wer ist eigentlich Deutsche_r, wer Berliner_in? Wer schreibt Geschichte und wer gestaltet sie? Wer ist sichtbar und wer nicht? Wessen Erleben erhält Aufmerksamkeit und Raum?

Zu solchen Fragen lädt, in Anspielung auf das berühmte J.F. Kennedy-Zitat „Ich bin ein Berliner“, die Ausstellung „Wir sind alle Berliner 1884 - 2014“ der Galerie SAVVY Contemporary - The Laboratory of Form-Ideas ein. Kuratiert wird sie von dem Pariser Schriftsteller, Dozenten und Kunstkritiker Simon Njami, dessen Schwerpunkt auf zeitgenössischer afrikanischer Kunst liegt.

Zum Auftakt der Ausstellung wählt SAVVY den 130. Jahrestag der Kongokonferenz („Berliner Konferenz“). Auf Einladung von Bismarck teilten ab dem 15.11.1884 vierzehn primär europäische Kolonialmächte Afrika untereinander auf. Unter Ausschluss der afrikanischen Bevölkerung besiegelten sie mit der Unterzeichnung der „Kongoakte“ die endgültige Ausbeutung und Kolonialisierung des afrikanischen Kontinents. Zynischerweise konnte durch die Konferenz der Frieden unter den Großmächten gesichert werden, entsprechend harmonisch teilten diese sich einen Kuchen, der ihnen nicht gehörte.

What was behind it all? Filipa Cesar - The Embassy (Video). Foto: Kristin Lein

„Kolonialmächte, die sich um die Karte des Afrikanischen Kontinents herum versammelten, wie um ein Schachbrett“ (Kurator Simon Njami)

Als Kennedy seine Botschaft 1963 an das geteilte Berlin richtete, ging es ihm um den Abbau von Grenzen und die Überwindung nationalistischer Beschränkungen. „Wir sind alle Berliner 1884 - 2014“ fragt, wie im Angesicht von wachsendem Nationalismus und Rassismus in Europa deutsche Identität und europäische Nationalitäten heute definiert werden können sowie welche historischen und zeitgenössischen Bindungen und Parallelen es zu Afrika gibt. Dabei nimmt sie aktiv den Part des ewig „Anderen“ und Ausgeschlossenen ein, die Ausstellung gehört den Kolonialisierten und ihrer Perspektive.

Sammy Baloji etwa legt für sein Werk „Mémoire“ die Minen der Union Miniére du Haut katanga in Lumbashi und Aufnahmen schwarzer und weißer Kolonialfotografen übereinander und schafft so vielschichtige Fotomontagen. Sie verweisen auf ein Europa, dessen Großmächte in einem Kampf um „Fortschritt und Wachstum“ den Grundstein für die Globalisierung legen, was auch die systematische Ausbeutung der afrikanischen Bevölkerung sowie ihren Ressourcen und Rohstoffen bedeutet. Die deutsche Koloniallobby und Großunternehmer starteten 1884 mit der Einführung sogenannter „Schutzgebiete“, die ihnen die Verwaltung und „Entwicklung“ der betroffenen Gebiete erlaubte. Größenwahnsinnige Projekte wurden angestoßen, auch der Kolonialhandel erlebte damit einen Boom. Assimilation, Versklavung und Massenmorde, wie etwa an den Herero und Nama in Südwestafrika, waren dabei ein bloßer Wirtschaftsfaktor im Streben nach Profit, wissenschaftlich- technischem Fortschritt und dem Auf- und Ausbau der Vormachtstellung.

Mansour Ciss dagegen zeigt mit „Laboratoire Déberlinisation“ seine Vision eines wohlhabenden, friedlichen Afrikas, das souverän über eigene Ressourcen verfügt und frei seine Zukunft gestalten kann. Seine fiktive Währung „AFRO“ nimmt mit bunten Geldscheinen und der „AFRO Express Card“ Gestalt an und zeigt wie die finanzielle und politische Selbstbestimmung aussehen könnte. Sein Projekt soll dabei auch den Dialog zwischen Süd- und Nordafrika und über die aufgezwungenen, künstlichen Reißbrettgrenzen hinaus anregen.

Wenn Keramikteller mit einzelnen Körperteilen darauf trophäenartig aufgehängt werden, kann das als Hinweis auf die bis heute andauernde Exotisierung, Sexualisierung, Verwertung und Kommerzialisierung Schwarzer Menschen, ihrer Körper und Arbeitskraft verstanden werden. Dreizehn davon hat Bili Bidjocka aufgereiht. Seine Dekonstruktion des letzten Abendmahls „Dis-ambiguation“ thematisiert Missionierungen und christliche Doppelmoral.

Solche Lücken im deutschen Kollektivgedächtnis will das Projekt „Colonial Neighbours“ von SAVVY Contemporary füllen, das ein Archiv kolonialer Geschichte und Gegenwart werden soll und auch über die Ausstellung hinaus besteht. Erinnerungsstücke, Alltags- und Gebrauchsgegenstände, wie Fotoalben,Tagebücher, Briefe, Sammelalben werden sowohl digital als auch dinglich gesammelt und dokumentiert. Das Archiv zeigt auf, dass der Kolonialismus nicht „irgendwo weit weg“ stattgefunden hat, sondern eine Praxis und Ideologie war, die von der deutschen Bevölkerung gelebt und geschätzt wurde. Vier Millionen Unterschriften zur Verhinderung aus der Bevölkerung gingen ein, als die Versailler Verträge das Ende der deutschen Kolonien besiegelten.

Blick auf Kunst von Cyrill Lachauer. Bilder im Hintergrund: Ausschnitte aus Mémoire von Sammy Baloji. Foto: Kristin Lein

„Während die Berliner Konferenz die Umrisse des afrikanischen Kontinents modifizierte, änderte sie dabei auch Europa.“ (Kurator Simon Njami)

130 Jahre sind kaum ein weltgeschichtlicher Lidschlag und so zeigen sich kolonialistische Spuren nach wie vor. Eine „Entkolonialisierung“ gab es nie. Möbel und Dekoration im „Kolonialstil“ können im Internet bestellt werden, Cafés begrüßen uns mit „Schwarzen Dienern“ im Eingangsbereich, Logos und Slogans mit rassistischen Karikaturen und dem auch in einer österreichischen Süßspeise noch geläufigen M-Wort prangen in Supermarktregalen. Viele Forschungsinstitute und Museen haben koloniale Wurzeln und stellen noch heute romantisierte Werke rund um „tapfere Entdecker“ und Raubkunst aus. Noch immer sind zahlreiche Straßen und Plätze nach Kolonialherren benannt, der Menschenrechtsaktivist und Politologe Joshua Kwesi Aikins kennt sie. Bei seinen Stadtführungen durch Berlin zeigt er diese Spuren, beispielsweise im „afrikanischen Viertel“ im Wedding oder dem May-Ayim-Ufer in Kreuzberg.

Wer deutsch ist, ist weiß und wer in Deutschland weiß ist, ist deutsch. Soweit zumindest die Auffassung der weiß-deutschen Mehrheitsgesellschaft. Die damit verbundenen Privilegien basieren nicht auf einer gottgegebenen natürlichen Ordnung der Dinge, sondern auf Ausbeutung und Unterdrückung. Der weiße Mann erlangte seine Macht durch Massenmorde, Apartheid, Kolonialisierung und Rassentheorien. Er erhält sich seine Vormachtstellung durch umfassende Rassismen und den Neokolonialismus.

Noch heute profitieren die ehemaligen Kolonialmächte von den errichteten Strukturen und erhalten Rassismen und ökonomische Abhängigkeiten aufrecht. Noch heute herrscht ein koloniales Denken und Handeln vor, wie beispielsweise das Bild von „ungebildeten Wilden“ aufzeigt, die vom Westen missioniert und mit Segnungen der Technik ausgestattet werden müssen. Das zeigt sich auch am aktuellen Beispiel Ebola, das als „afrikanisches“ Problem dargestellt wird, obwohl im Jahr 2014 nur vier der 54 Staaten des Kontinents betroffen sind. Auch werden westliche „Hilfeleistungen“ anhand einer dargestellten Unfähigkeit seitens der betroffenen Länder legitimiert. Informationen über afrikanische Initiativen, wie etwa die ASEOWA der Afrikanischen Union, und über die Länder, die sich dem Thema adäquat selbst annahmen, sind nicht bis in unsere Nachrichten vorgedrungen.
Noch heute nützen Entwicklungs-, Subventions- und Reparationspolitiken vor allem dem Westen. Noch heute existiert kaum ein Unrechtsbewusstsein oder ein Streben nach Aufarbeitung. Postkolonial ist bloß das Datum, Europa noch lange nicht.

Zur Ausstellung:

„Wir sind alle Berliner“
15.11.2014-11.1.2015
SAVVY Contemporary Berlin
Richardstraße 20
12043 Berlin-Neukölln

savvy-contemporary.com

 

Anne Pohl macht hauptberuflich politische Kommunikation, ist Gründerin von feminismus101.de und schreibt bei herzteile.org.

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