Nationalsozialismus

Waffen der Kritik

  • 20.06.2017, 22:36
Der Behemoth, Franz Neumanns umfassende Studie über das NS-Regime, beginnt mit einer simplen Einsicht: Der Nationalsozialismus lässt sich nicht mit Argumenten und Propaganda bekämpfen – adäquat ist allein seine gewaltsame Zerstörung.

Der Behemoth, Franz Neumanns umfassende Studie über das NS-Regime, beginnt mit einer simplen Einsicht: Der Nationalsozialismus lässt sich nicht mit Argumenten und Propaganda bekämpfen – adäquat ist allein seine gewaltsame Zerstörung. Neumann selbst hat seine Arbeit diesem Ziel verschrieben. Er gehörte zu jenen TheoretikerInnen, die nach ihrer Beschäftigung am exilierten Institut für Sozialforschung in den Dienst des Office of Strategic Services (OSS) traten, um in der Abteilung für Forschung und Analyse dem amerikanischen Geheimdienst zuzuarbeiten. Der nun auf Deutsch erschienene Band Im Kampf gegen Nazideutschland dokumentiert neben den internen Berichten von Franz Neumann auch jene von Otto Kirchheimer und Herbert Marcuse. Die Lektüre der Texte ist so spannend wie aufschlussreich: Sie zeigen die Machtkämpfe zwischen den herrschenden Cliquen in Deutschland auf, insistieren auf der Mitschuld der Führer der Industrie an den Nazi- Verbrechen, statten die Anklage der späteren Nürnberger Prozesse mit Argumenten aus.

Der alte Kalauer von der Praxisferne der Kritischen Theorie war schon immer falsch – doch vor dem Hintergrund der Tätigkeit der Kritischen Theoretiker im OSS wird er zur blanken Lüge. Bedauerlich ist an manchen Stellen die Zurückhaltung des Herausgebers. Gerade dort, wo die Analysen den üblichen Weitblick vermissen lassen, wäre viel gewonnen, sie mit dem Lauf der Geschichte zu konfrontieren. Neumann schreibt etwa 1944, dass das deutsche Volk angesichts der drohenden Niederlage dem Regime letztendlich die Kooperation verweigern würde. Das Gegenteil ist eingetreten: Die Heimatfront blies noch munter zur Jagd auf russische Kriegsgefangene, als die Rote Armee bereits vor Berlin stand. Die marxistische Provenienz der Berichte, die ihnen oft Schärfe verleiht, macht sich leider auch in der Verklärung der deutschen Massen bemerkbar. Die grundlegende Erkenntnis des Behemoth, dass der NS-Staat nur durch den Kampf gegen den Feind, zuvorderst den jüdischen, bestehen kann, wird in den versammelten Texten anschaulich. Die Berichte von Neumann, Kirchheimer und Marcuse waren nicht der „Einsatz [der Kritischen Theorie] als praktisch gewendetes Analyseinstrument“, wie Axel Honneth im Vorwort meint. Vielmehr waren sie nichts anderes als das: Kritische Theorie selbst.

Franz Neumann, Herbert Marcuse und Otto Kirchheimer: Im Kampf gegen Nazideutschland. Die Berichte der Frankfurter Schule für den amerikanischen Geheimdienst 1943–1949.
Hrsg. von Raffaele Laudani. Aus dem Englischen von Christine Pries.
Frankfurt/ New York: Campus Verlag 2016, 812 Seiten, 39,95 Euro (E-Book 35,99 Euro).

Simon Gansinger studiert Philosophie an der Universität Wien.

Lady Death

  • 20.06.2017, 22:22
More than three hundred nazis fell by your gun.

More than three hundred nazis fell by your gun.

Eine Frau muss geschützt werden, neue Soldaten gebären und von der Heimat aus die Kriegsfront versorgen. Eine Soldatin ist heute wie damals die Ausnahme der männlichen Regel. Krieg, Gewalt und Brutalität stehen im künstlichen Widerspruch zu allen weiblichen Rollenbildern. Wenn wir heute eine Frau in Uniform stecken, ist diese im Normalfall knapp geschnitten und erfüllt keinen weiteren Zweck, als sexuelle Fantasien zu befriedigen. Aber warum eigentlich? Mal ganz abgesehen davon, dass Krieg abzulehnen ist, warum sollte es im Krieg männliche Privilegien geben? Kurz gesagt ist es eine Frage von Macht, denn was bedauerlicherweise immer galt und noch heute gilt: „Politische Macht kommt aus den Gewehrläufen.“

IN DIE STIEFEL! 1998 durchbrachen hierzulande erstmals neun Frauen diese Männerdomäne und rückten beim österreichischen Bundesheer ein. Bis dahin war es Frauen schlichtweg nicht erlaubt, Soldatin zu werden. Ganz ähnlich wie in vielen anderen Staaten der Welt. Während des Zweiten Weltkriegs waren Frauen keine regulären Soldatinnen, mit Ausnahme in den Sowjet-Republiken. Die Genossen und Genossinnen nahmen die Sache mit den „gleichen Rechten für alle“ (vergleichsweise) richtig ernst und ermöglichten den Bürgerinnen den freiwilligen Militärdienst. Die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter in der Sowjetunion wischte die veralteten Rollenbilder auch im Kommunismus nicht augenblicklich vom Tisch, dennoch waren die Kommunist_innen in Sachen Gleichberechtigung dem Rest der Welt um einiges voraus.

Im Herzen des „friedlichen“ Europas und als Teil einer Generation, welche Kriegsleiden nur vom Sensationsjournalismus kennt, wirkt die Vorstellung vom Kriegsdienst befremdlich. Bittere Realität war die Bedrohung durch einfallende Nazis 1941 für eine junge ukrainische Genossin.

ADLERAUGEN. Ljudmila Pawlitschenko war begeisterte Studentin der Geschichtswissenschaft, als ihr die Nationalsozialist_innen in die Quere kamen. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion unter dem Decknamen „Unternehmen Barbarossa“ meldete sie sich freiwillig zum Militärdienst. Anstatt ihrer Traumberufung weiter nachzugehen, nutzte sie ihr außerordentliches Talent als Präzisionsschützin.

Ihre Zielsicherheit bemerkte sie mehr zufällig. So wie manche ins Kino gingen, amüsierten sich zu jener Zeit die jungen Erwachsenen auch am Schießstand. Als Ljudmila eines Tages gegen ihre Genossen in einem spielerischen Wettkampf eine fast perfekte Serie schoss, ermöglichte ihr der Schießbudenbesitzer eine Ausbildung als Scharfschützin bei der Roten Armee. Sie sollte die beste und gefürchtetste Scharfschützin im Zweiten Weltkrieg werden.

MYTHOS LADY DEATH. Insgesamt 309 Wehrmachtssoldaten, überwiegend Kommandanten und Führungskräfte, wurden von ihr getötet. Sie war einerseits eine wertvolle Soldatin der Sowjetunion, andererseits eine politische Waffe für die Aufrechterhaltung des Kampfgeistes. Stadt für Stadt rückten die Nazis vor und hinterließen nichts als Tod und Zerstörung. Die Wehrmacht ermordete im Ostfeldzug etwa 40 Millionen Sowjetbürger_innen, die Hälfte davon waren Zivilist_ innen. Der Mythos der unverwundbaren Scharfschützin stärkte den Widerstand und die Hoffnung.

NACHTHEXEN. Ljudmila wurde zum Idol kommunistischer Frauen, die sich wie sie nicht ängstlich versteckten, sondern aktiv gegen die Invasoren kämpfen wollten. Sie akzeptierten weder die passive Rolle noch ließen sie sich in den klischeehaften Sanitätsdienst drängen. Sie wollten kämpfen. Ljudmila war nicht die einzige berühmte Soldatin der Roten Armee. Die sogenannten „Nachthexen“ erzielten beachtliche militärische Erfolge bei den unzähligen riskanten Luftangriffen mit umgebauten Flugmaschinen aus der Landwirtschaft.

Auf Feindesseite wurden Ljudmilas Trefferquote und ihr tödlicher Ruf zum Problem. Mittels Propaganda über ihren Tod sollte den Wehrmachtssoldaten die Angst vor ihr genommen werden. Scharfschützen wurden an die Ostfront geschickt, um sie auszuschalten. Kein einziges Duell verlor sie. Insgesamt 36 der besten Wehrmachtsschützen tötete Pawlitschenko. Während die Nazis sie als die „Russische Hure aus der Hölle“ fürchteten, wurde sie in den USA als „Lady Death“ gefeiert:

“Miss Pavilichenko’s well known to fame;
Russia’s your country, fighting is your game;
The whole world will love her for a long time to come,
For more than three hundred nazis fell by your gun.”

Der US-amerikanische Folksänger Woody Guthrie widmete ihr dieses Lied. Sie wurde als Teil der sowjetischen Delegation nach Washington eingeladen, wo sie für den Kriegseintritt der USA werben sollte. Zunächst wurde sie von der US-Presse belächelt und wegen ihres wenig glamourösen Auftretens kritisiert. Ein Reporter fragte sie, ob russische Soldatinnen an der Front Make-up tragen dürften. Sie erwiderte: „Es gibt keine Regel dagegen. Aber wer hat Zeit, über seine glänzende Nase nachzudenken, während ein Kampf tobt?“

Während ihrer Reise traf Ljudmila auf die First Lady. Eleanor Roosevelt war offen von der Soldatin fasziniert und lud sie als erste Sowjetbürgerin ein, im Weißen Haus zu residieren. Die beiden Frauen aus so gegensätzlichen Gesellschaften blieben ein Leben lang befreundet.

Ljudmila war klug, talentiert, mutig und Kommunistin. So wurde sie zum Vorbild sowjetischer Frauen, sich auch in der klaren Männerdomäne Krieg und Militär ihren Platz zu nehmen und gegen den Nationalsozialismus zu kämpfen. 40 Jahre nach ihrem Tod wurde ihre außergewöhnliche Rolle im Zweiten Weltkrieg verfilmt. 2015 feierte die russisch-ukrainischee Produktion „Red Sniper“ Premiere und wurde ein Riesenerfolg.

Christina Müller hat in Potsdam MilitaryStudies studiert und arbeitet im Büro für Sicherheitspolitik.

„Drogenfreier Volkskörper“

  • 22.06.2016, 14:02

Rechtsextreme Drogenpolitiken, rechtsextremer Drogenkonsum.

Wenngleich FPÖ-Politiker_innen sich tagesaktuell immer wieder zu drogenpolitischen Themen positionieren, bleibt die Thematik im Parteiprogramm der FPÖ jedoch weitgehend ausgespart. Anders verhält es sich bei der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD), in deren Parteiprogramm Drogenkriminalität „hohe Priorität“ zugeschrieben wird, die „härter zu ahnden“ wäre. Die Alternative für Deutschland (AfD) wiederum fordert „Süchtigen […] im Wege der kontrollierten Abgabe“ Zugang zu Drogen zu ermöglichen und glaubt, damit Kriminalität und „Schwarzmarkt“ bekämpfen zu können. Als gemeinsamer Nenner dieser durchwegs unterschiedlichen Positionen fungieren im rechtsextremen Parteienspektrum vor allem die Ablehnung liberaler Drogenpolitiken sowie die rassistische Aufladung damit verbundener Diskurse. Dabei werden Feindbilder geschaffen, die den Vertrieb von Drogen ausschließlich bei vermeintlich „Fremden“ orten. Es handle sich, so die Konstruktion, um organisierte „ausländische“ Banden, die versuchen würden, den „Volkskörper“ sprichwörtlich zu vergiften. National Gesinnte hingegen würden und müssten jegliche Form der Verbreitung von Drogen aus selbigem Grund ablehnen. Das „eigene Volk“ müsse „sauber“, „rein“ beziehungsweise „drogenfrei“ gehalten werden. Die tiefe Verankerung des Feinbildes des „ausländischen Drogendealers“ in Gesellschaft, Politik und Medien ermöglicht es Vertreter_innen der extremen Rechten, sich als „Saubermacher_ innen“ und „Beschützer_innen des Volks“, insbesondere der angeblich bedrohten Jugend zu inszenieren. Zudem eignet sich das Drogenthema, als vermeintlich politisch wenig belastetes, um in der sogenannten Mitte der Gesellschaft zu punkten.

WIDERSPRÜCHLICH. Dennoch spiegeln sich die prohibitionistischen Forderungen rechtsextremer Parteien nicht unbedingt im Verhalten ihrer Anhänger_innen wider, da in regelmäßigen Abständen gegen Angehörige rechtsextremer und neonazistischer Szenen nicht nur wegen Konsums von, sondern auch Handel mit Drogen ermittelt wird. So war beispielsweise der 2010 aufgeflogene neonazistische Kulturverein Objekt 21 nahe Attnang- Puchheim in Drogen- und Waffenhandel involviert. Auch in Deutschland lag im Zuge von Ermittlungen immer wieder die Vermutung nahe, dass sich neonazistische Szenen über Drogenhandel finanzieren. Zudem sind Fälle bekannt, in denen Rechtsextreme ihre Taten, wie das Zeigen des Hitlergrußes oder auch Gewalt gegen Menschen, (vor Gericht) mit vorangegangenem Drogenkonsum zu entschuldigen versuchten.

Auch in den Reihen der FPÖ selbst kommt es immer wieder zu „Skandalen“ im Zusammenhang mit Drogenmissbrauch. So standen zum Beispiel letztes Jahr eine Polizeibeamtin und FPÖ-Bezirksfunktionärin sowie ein Mitglied der Polizeigewerkschaft Aktionsgemeinschaft Unabhängiger und Freiheitlicher (AUF) in Innsbruck im Visier von Ermittlungen wegen Verstößen gegen das Suchtmittelgesetz. Widersprüchlichkeiten in rechtsextremen Drogenpolitiken werden auch in Bezug auf die Haltungen rechtsextremer Parteien zu Tabak und Alkohol evident. Abgesehen davon, dass die „Volksdroge“ Alkohol in den meisten rechtsextremen Kreisen ohnehin nicht als Suchtmittel anerkannt wird, inszeniert sich die FPÖ in Abgrenzung zur Regierung als „Raucher_ innenpartei“. Während in Bezug auf andere Suchtmittel selbstbestimmte Konsummöglichkeiten gänzlich abgelehnt werden, tritt die FPÖ in der von ihr ins Leben gerufenen Petition „Nein zum absoluten Rauchverbot“ für „die Wahlfreiheit der Konsumenten und Gastronomen“ ein.

PANZERSCHOKOLADE. Bereits im Zweiten Weltkrieg dürfte die Haltung der Nationalsozialist_innen gegenüber Drogen alles andere als ablehnend gewesen sein. Adolf Hitler selbst soll mit sogenannten Nachtschattendrogen und Strychnin experimentiert, Josef Goebbels Morphium und Hermann Göring Kokain konsumiert haben. In der deutschen Wehrmacht und Luftwaffe wurde vor allem im Blitzkrieg gegen Polen Pervitin, heute bekannt als Crystal Meth, eingesetzt, um einerseits die Konzentrations- und Leistungsfähigkeit der Soldaten zu steigern und andererseits ihre Angstgefühle einzudämmen. Über 200 Millionen „Stuka-Tabletten“, „Hermann-Göring- Pillen“, „Panzerschokolade“ und „Fliegermarzipan“, wie die entsprechenden „Aufputscher“ genannt wurden, sollen zwischen 1939 und 1945 eingesetzt worden sein.

STRAFEN STATT HELFEN. Darüber hinaus lässt sich sagen, dass rechtsextreme Ideologie, anstelle von Prävention und Ursachenbekämpfung oder der Förderung eines selbstbestimmten, verantwortungsvollen Konsumverhaltens, auf Repression, härtere Strafen und Ausbau von Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen setzt. Von vielen rechten und rechtsextremen Parteien sowie ihren Anhänger_innen werden jedoch nicht nur liberale Drogenpolitiken abgelehnt, sondern auch Unterstützungsprogramme für Suchterkrankte. Die Forderung nach „Zwangstherapie für Drogenabhängige“, wie sie von der FPÖ-Nationalratsabgeordneten Dagmar Belakowitsch- Jenewein aufgestellt wurde, ignoriert beispielsweise, dass nicht jeder Konsum mit einer Suchterkrankung gleichzusetzen ist und die Wirksamkeit derartiger Maßnahmen nicht durch Zwang, sondern ausschließlich durch (freiwillige) Bereitschaft der Betroffenen erreicht werden kann.

Auch Waldarbeit oder landwirtschaftliche Tätigkeiten, wie es die FPÖ begleitend zum Entzug vorgeschlagen hat, zielen nicht notwendigerweise auf die Heilung ab. Vielmehr wird deutlich, dass sich hinter der Ablehnung von Suchthilfe auch gängige Muster menschenfeindlicher, sozialdarwinistischer Politiken verbergen, in denen schwächere Mitglieder der Gesellschaft nicht unterstützt, sondern im Gegenteil als Last für die Allgemeinheit erachtet werden. Die AfD fordert in ihrem Parteiprogramm beispielsweise, „nicht therapierbare Alkohol- und Drogenabhängige sowie psychisch kranke Täter […] nicht in psychiatrischen Krankenhäusern, sondern in der Sicherungsverwahrung unterzubringen“. Hinzu kommt außerdem, dass sich rechtsextreme und neonazistische Gewalt auch immer wieder gegen soziale Randgruppen wie Konsument_innen von Drogen und Suchterkrankte richtet.

Judith Goetz ist Mitglied der Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit und studiert Politikwissenschaften im Doktorat an der Uni Wien.

Fußnoten zum Wahn

  • 22.06.2016, 12:02
Nach dem Ablauf des Urheberrechts für Mein Kampf bemühen sich die Herausgeber der kritischen Edition darum, die Ausstrahlung des Originaltexts auf 2.000 Seiten zu zerstören

Nach dem Ablauf des Urheberrechts für Mein Kampf bemühen sich die Herausgeber der kritischen Edition darum, die Ausstrahlung des Originaltexts auf 2.000 Seiten zu zerstören. Das gelingt in der typographischen Gestaltung durchaus: Hitlers Erzählung wird vom wissenschaftlichen Apparat richtiggehend umklammert. Erfolgreich ist ebenso das Unternehmen, Hitlers fantastische Schilderung seines Lebens gegen den tatsächlichen biographischen Hintergrund zu kontrastieren.

Doch der Wahn, den Hitler in „Mein Kampf“ ausbuchstabiert, lässt sich nicht durch penible Faktenrecherche widerlegen. Allzu oft schrecken die Herausgeber davor zurück, die ideologischen Abgründe und nicht bloß die historische Landschaft auszuleuchten. Auf Hitlers Litanei, dass die „jüdische Bastardierung“ die deutschen Städte dorthin bringe, „wo Süditalien heute bereits ist“, reagieren sie etwa mit dem Hinweis, dass Hitler hier falsch liege, da im Süden Italiens seit Jahrhunderten nur eine winzige jüdische Gemeinde existierte. An solchen Stellen wird der Kommentar zu Besserwisserei. Wer Hitlers Wahn konsequent wie eine Ansammlung von Irrtümern behandelt, vermittelt den Eindruck, statt „Mein Kampf“ zu kommentieren, den Führer belehren zu wollen.

Am tiefsten schürft der Kommentar dort, wo er am nächsten an der textlichen Oberfläche bleibt. Über die Armut, die er in Wien erlebt hat, schreibt Hitler etwa: „Wer nicht selber in den Klammern dieser würgenden Natter sich befindet, lernt ihre Giftzähne niemals kennen.“ Das Bild ist als Ganzes verunglückt, wird in der Fußnote bemerkt: Nattern würgen nicht, und wen sie dennoch würgen, der kann ihre Giftzähne nicht sehen. Stürzt die Metapher ins Leere, befindet sich häufig auch der Gedanke im freien Fall.

In tausenden anderen Fußnoten und Einleitungen erfährt man mehr oder häufig auch weniger Bedeutendes. Sei es über Hitlers Diät in der Festungshaft in Landsberg („Eier, Butter, Zitronen“), sei es über das Lieblingshobby von Hitlers Vater („Bienenzucht“). Wer so etwas wissen will, verwechselt das Interesse an der Person Hitler mit der Begeisterung für des Führers Privatleben. Es steht zu befürchten, dass der riesige Zuspruch für das Buch – mehr als 60.000 verkaufte Exemplare – nicht zuletzt auf diesem Missverständnis beruht. Den Herausgebern ist der Erfolg nicht vorzuwerfen: Ihre Edition ermöglicht das Studium des Textes, verhindert aber seine ungestörte Lektüre.

Christian Hartmann, Othmar Plöckinger, Roman Töppel, Thomas Vordermayer (Hg.):
Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition.
Institut für Zeitgeschichte München- Berlin 2016. 1.966 Seiten, 59 Euro.

Simon Gansinger studiert Philosophie an der Universität Wien.

„Insgesamt bin ich nicht allzu optimistisch“

  • 21.06.2016, 20:22
Moishe Postone ist Professor an der Universität von Chicago. Von 1972 bis 1982 lebte Postone in Frankfurt. In dieser Zeit entstand auch sein im deutschsprachigen Raum bekanntester Text „Nationalsozialismus und Antisemitismus“. Im Moment ist er für ein Forschungsprojekt in Wien.

Moishe Postone ist Professor an der Universität von Chicago. Von 1972 bis 1982 lebte Postone in Frankfurt. In dieser Zeit entstand auch sein im deutschsprachigen Raum bekanntester Text „Nationalsozialismus und Antisemitismus“. Im Moment ist er für ein Forschungsprojekt in Wien.

progress: In Ihrem Buch „Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft“ grenzen Sie die kritische Theorie von Marx stark vom Marxismus der II. und III. Internationale ab. Letzteres fassen Sie unter dem Namen traditioneller Marxismus zusammen. Können Sie das ein wenig ausführen und die Unterschiede erklären?
Moishe Postone: Die Kategorie „traditioneller Marxismus“ ist eine Bezeichnung, die sehr viele Ansätze einschließt. Der gemeinsame Nenner ist eine Kritik am Kapitalismus, die sich ausschließlich gegen die Distributionsweise, das Privateigentum und den Markt richtet. Der Standpunkt der Kritik ist die Arbeit. In einer postkapitalistischen Gesellschaft sollen die Arbeiter_innen den Reichtum, den sie produziert haben, innerhalb einer Planwirtschaft zurückbekommen. Zwar nicht als Einzelne, aber gesellschaftlich. Diese Analyse des „traditionellen Marxismus“ ist auf der einen Seite historisch inadäquat geworden und auf der anderen Seite ging schon die Kritik von Karl Marx in eine andere Richtung. Bei ihm ist es eine Kritik der Arbeit im Kapitalismus, statt einer Kritik vom Standpunkt der Arbeit aus. Ich habe versucht herauszuarbeiten, wie der spezifisch kapitalistische Charakter der Arbeit im Kapitalismus einer sehr komplexen Dynamik unterliegt. Diese Dynamik unterscheidet den Kapitalismus von allen vorhergehenden Gesellschaften. Marx liefert mit seiner Analyse ein Instrumentarium, um diese widersprüchliche Dynamik zu begreifen.

Und diese Widersprüche im Kapitalismus sind dann auch jene, die zu Widersprüchen gegen den Kapitalismus führen?
Ja, und fast alle die sich mit Marx beschäftigt haben, reden von der Widersprüchlichkeit des Kapitalismus. Größtenteils wird dieser Widerspruch aber als einer zwischen Privateigentum und Markt auf der einen und Arbeit auf der anderen Seite verstanden. Ich halte dem entgegen: Nein, es ist ein Widerspruch zwischen dem Zustand, wie Arbeit heute organisiert wird und einer möglichen zukünftigen Organisation der Arbeit. Ein Widerspruch zwischen dem Bestehenden und dem in ihm enthaltenen Potential, welches aber durch das Bestehende selbst nicht verwirklicht werden kann und deshalb auf die Möglichkeit der Aufhebung des Kapitalismus verweist. Es ist eine Kritik an der auf Arbeit basierenden Gesellschaft.

Warum haben die Marxist_innen am Ende des 19. Jahrhunderts und am Anfang des 20. Jahrhunderts Marx so gelesen?  Wer den Autor der Kritik der politischen Ökonomie aufmerksam liest, stößt auf viele Stellen, in denen er diese Kritik an der kapitalistischen Arbeit sehr explizit ausführt. Wie kam es also dazu?
Einmal ist es eine Rezeptionsgeschichte. Die Leute haben eigentlich nicht Marx gelesen, außer vielleicht das Kommunistische Manifest. Hauptsächlich haben sie Friedrich Engels gelesen. Was Marxismus genannt wird, sollte Engelsismus heißen. Es ist aber nicht nur eine Rezeptionsgeschichte. Die Arbeiterklasse wuchs zu dieser Zeit rasant an. Es war vor diesem Hintergrund sehr leicht vorstellbar, die Gesellschaft in Form der Kapitalistenklasse einfach zu enthaupten und damit eine befreite Gesellschaft zu erringen. Vor 50 Jahren kam diese Entwicklung aber an ihr Ende. Die Linke der 1960er verstand das nicht ganz. Zum einen vollzog sich damals etwas, was André Gorz den Abschied vom Proletariat nannte. Zum anderen gab es in Deutschland K-Gruppen, die den Gang in die Fabriken propagierten. Sie waren in historischen und politischen Belangen sehr verwirrt. Nicht, weil sie in die Fabriken gingen, sondern weil sie das Zentrum der Weltrevolution in China oder gar Albanien sahen. Die meisten hatten keine Ahnung was Albanien für ein Land war. Enver Hodscha war nicht nur kein netter Typ, in Albanien gab es fast keine Motorisierung. Und dieses Land sollte die Sperrspitze der Weltrevolution repräsentieren? Hier wurde Kritik zur reinen Glaubenssache.
Wenn man die Bewegung in den 1960er Jahren betrachtet, dann ist diese Form der Dogmatisierung jedoch nicht die Richtung, in die diese amorphe Bewegung gegangen ist. Es kam damals zu einer großen Verschiebung. Im Großen und Ganzen wurde die Stelle des Proletariats von den antikolonialen Kämpfen eingenommen. Es gibt einen Unterschied, ob man antikoloniale Bewegungen unterstützt, weil sie als vollwertige Menschen anerkannt werden wollen, oder ob man denkt, dies sei der Keim einer postkapitalistischen Gesellschaft. Das hatte verheerende Folgen. Am stärksten wurde dies im Nahen Osten sichtbar. Jahrelang sympathisierten Antiimperialisten mit Polizeistaaten im Nahen Osten. Solange sie keine langen Gewänder trugen und nicht allzu religiös waren, galten sie den europäischen Antiimperialisten als progressiv. Aber das waren sie nicht, auch wenn sie damals von der Sowjetunion unterstützt wurden. Die teils berechtigte, teils völlig unberechtigte totale Fokussierung auf Israel hat viele Linke blind für diese Probleme gemacht. Man bemerkt das noch heute im Fall von Syrien: Die Linke hat dazu nicht viel zu sagen. Dabei hat das Regime unter Assad vermutlich schon über 300,000 Syrer_innen ermordet. Zudem kam in den 1960er Jahren die Identitätspolitik auf. Sie begann als Kritik an einem abstrakten Universalismus, der Differenz nicht berücksichtigte, engte sich aber schnell zu einem Partikularismus ein. Was es auf keinen Fall gab, war eine Rettung der proletarisch zentrierten Politik. Dazu gab es nur Lippenbekenntnisse und viele marschierten mit roten Fahnen, aber das war alles.

Wenn man Autoren der 1960-70er Jahr liest, fällt vereinzelt auf, dass es doch auch welche gab, die beim Arbeitsbegriff vom traditionellen Marxismus sehr abwichen. Wie weit verbreitet war das damals?
Es war nicht sehr verbreitet. Das kann jetzt auch Lokalpatriotismus sein, aber ich würde behaupteten, es wurde vor allem in Frankfurt vertreten. Seit den späten 1930er Jahren hatten Autoren wie Theodor W. Adorno oder Max Horkheimer Abschied von der Verherrlichung der Arbeit genommen. Gut, ich finde die Kritik der Frankfurter Schule einseitig und problematisch. Sie drehten die Bewertung der Arbeit einfach nur um. Das sehe ich kritisch, aber diese Tradition hat viele Linke in Frankfurt gegen den Marxismus-Leninismus geimpft. Die ML-Gruppen waren wohl auch deshalb in Frankfurt schwächer als in vielen anderen deutschen Städten.

Wie verhält es sich denn mit der Marx-Rezeption außerhalb des deutschsprachigen Raumes, gibt es da neben ihnen auch andere Autoren, die diese Kritik an der kapitalistischen Arbeit vertreten?
Ja, aber sie sind höchstwahrscheinlich nicht so bekannt. Patrick Murray, Christopher Arthur, Marcel Stoetzler, es gibt sie schon. Unabhängig davon gibt es eine starke Marx-Welle in den USA und Großbritannien, aber dort wird Marx anders gelesen. Der angelsächsische Marxismus war schon immer auf die Ökonomie zentriert, er war immer mehr eine kritische politische Ökonomie statt einer Kritik der politischen Ökonomie. Es fehlt eine gewisse Reichhaltigkeit der deutschsprachigen Diskussion. Wenn die Linken in Großbritannien versuchten, sich Theorie anzueignen, blickten sie nach Frankreich und lasen Louis Althusser, Ètienne Balibar und dann später Michel Foucault. Jene Kritik aber, die mit dem Werk von Georg Lukàcs beginnt und in der kritischen Theorie fortgesetzt wird, die eine Gesellschafts- und Kulturkritik formuliert, wird in den USA nur von einer kleinen Gruppe von Akademiker_innen und ihren Student_innen vertreten. Dennoch, Marx ist in den USA und Großbritannien viel weiter verbreitet als in Deutschland oder Österreich.

Spielen sie bei dieser kleinen Gruppen von Akademiker_innen und Student_innen auf die Gruppe Platypus an?
Ich meinte das viel allgemeiner. Die Gruppe Platypus, die kaum für alle Gruppen steht, die die kritische Theorie rezipieren, ist leider sehr zwiespältig. Ich kannte die Gründungsmitglieder sehr gut. Manche haben meine Seminare belegt und sind aus Chicago. Sie präsentieren sich als Gruppe, die sich sehr ernsthaft mit Theorie beschäftigt, sehr viel ernsthafter, als viele andere. Andererseits versuchen die Führungskader etwas zu tun, was nicht machbar ist. Sie wollen meine Arbeit, die von Adorno und von Lenin verbinden. Mein Buch ist sehr bewusst gegen den Leninismus geschrieben. Es war ein Versuch auf einer sehr grundlegenden Ebene gegen den Leninismus vorzugehen.

Sie beschreiben eine Dynamik, die unabhängig von spezifischen Regierungen überall auf der Welt ähnlich abläuft. Wie kann man erklären, dass der Wohlfahrtsstaat heute nicht mehr finanziert werden kann oder warum die Sowjetunion und der Wohlfahrtsstaat zur gleichen Zeit untergingen?
Es gibt sehr viele Theorien über die Gründe der Krise in den frühen 1970er Jahren. Keine davon überzeugt mich vollkommen. Wenn die amerikanische Presse versucht das Phänomen Trump zu erklären, reden sie über die Misere der ehemaligen industriellen Arbeiterklasse in den USA. Ihr Durchschnittslohn ist seit 1973 gleich geblieben. In Deutschland stieg er dagegen noch eine gewisse Zeit an. Deutschland blieb in manchen Bereichen länger ein Wohlfahrtsstaat. Es gab aber auch in Deutschland gegenläufige Tendenzen. In den 1960er Jahren nahm die Zahl der Student_innen stark zu. Um dies zu finanzieren, wurde der Sozialstaat ab den frühen 1970er zurückgeschraubt. Ich glaube es gibt einen Zusammenhang zwischen den Grenzen einer auf proletarischer Arbeit basierenden Gesellschaft, den Grenzen des Keynesianismus und der ökonomischen und ökologische Krise.

Der Kapitalismus hat die Tendenz, immer weniger Arbeit für die Produktion seines Reichtums zu gebrauchen. Dies bedeutet gleichzeitig eine Abnahme der Zahl von Arbeiter_innen. Damit wird eine wichtige Einkommensquelle des Wohlfahrtsstaates beschnitten. Kann man sich das so irgendwie vorstellen?
Ja, aber ich möchte dies noch wertkritisch ausarbeiten. Dort bin ich noch nicht. Die Krise von 2008 ist wirkliche ein Nachbeben der Krise von 1973.

In der Linken ist im Moment eine gewisse Re-Traditionalisierung zu beobachten. Man liest wieder Lenin oder Luxemburg. Oder man bezieht sich auf den Wohlfahrtsstaat der 1970er Jahre. Beide wollen eine neue linke Partei gründen, wie erfolgsversprechend ist das?
Dramatisierend gesagt, es ist ein widersprüchliches Problem. Es gab früher einen Zusammenhang von Arbeitskämpfen und Veränderung. Progressive Leute müssten in der heutigen Situation zwei Sachen versuchen, die in zwei verschiedene Richtungen gehen. Die Arbeiter_innen vor den Auswirkungen des Kapitalismus schützen, denn ihre Situation wird Zusehens erbärmlich und den Kapitalismus mit dem Ziel seiner Überwindung kritisieren.

Kommen wir zum Antisemitismus, zu dem Sie in der Vergangenheit viel geforscht haben. Wie funktioniert der Antisemitismus in der bürgerlichen Gesellschaft und warum wird er unter bestimmten Verhältnissen virulent?
Der Antisemitismus ist eine Fetisch-Form, die den seit mindestens einem Jahrtausend existierenden christlichen Antijudaismus zur Voraussetzung hat. Aber beide Phänomene sind nicht dasselbe. Der Antisemitismus ist eine bestimmte antikapitalistische Ideologie, die zwischen der konkreten Dimension des Kapitals (Industrie, Maschinen) und der abstrakten (Geld, Börse, Banken) trennt. Dabei wird in dieser Ideologie die konkrete Seite des Kapitals als gesund und gut erachtet. Die abstrakte Seite dagegen als zersetzend und global. Diese Trennung drückt sich konkret in einer ideologischen Sicht auf den Kapitalismus aus, die sowohl die industriellen Kapitalist_innen, als auch die Arbeiter_innen als Produzent_ innen sieht und alleinig die Bankiers als Schmarotzer_ innen identifiziert.

Das ist die Basis der antisemitischen Ideologie. Wie kommt es dazu, die abstrakte Seite des Kapitals als jüdisch zu imaginieren?
In Ländern wie Österreich oder Deutschland gab es nicht nur eine lange Tradition des christlichen Antisemitismus: Die Jüd_innen erlangten ihre Rechte in der bürgerlichen Gesellschaft genau in dem Moment, in dem auch die kapitalistische Industrialisierung expandierte. Jüd_innen wurden plötzlich sichtbar und zwar besonders in Berufen, die mit dieser Entwicklung aufkamen, während traditionellere Berufe bedroht waren. Antisemitismus ist jedoch nicht nur eine Form des Rassismus. Ich könnte auch auf andere Dimensionen des Problems aufmerksam machen, wie den Unterschied zwischen Gesellschaften, die durch staatliche Intervention modernisiert wurden, wie in Zentraleuropa und zum Teil auch in Frankreich, und Gesellschaften mit einer älteren liberal-kapitalistischen Geschichte. Nein, der Antisemitismus ist eine Weltanschauung. Diese Ideologie will die Welt erklären und deshalb ist sie so weit verbreitet. Der Rassismus funktioniert dagegen anders. Ich will das nicht hierarchisch verstanden wissen. Das eine ist nicht bekämpfenswerter als das andere. Der Antisemitismus ist zudem ein Krisenphänomen. Schauen wir dazu in den Nahen Osten. Es gibt mehrere Gründe, warum der Antisemitismus dort heute so verbreitet ist. Da wäre die Nazi-Propaganda während des Zweiten Weltkriegs. Aber das erklärt natürlich nicht alles. Ein zweiter Faktor ist die Sowjetunion: 1967 hatte Israel die mit der Sowjetunion verbündeten arabischen Staaten geschlagen. Nach der Niederlage ihrer Verbündeten startete die Sowjetunion eine Propaganda, die dem Stürmer entstammen hätte können. Der Zionismus wurde mit dem Faschismus gleichgesetzt. Dann ist da der ökonomische Abstieg dieser Weltregion auf ein Niveau vergleichbar mit dem Afrikas südlich der Sahara. Der Abstieg der arabischen Welt beginnend in den 1980er Jahren und der gleichzeitige Aufschwung anderer Weltteile, die früher als Dritte Welt galten, haben viele Menschen im Nahen Osten empfänglich für Verschwörungstheorien gemacht. Diese Verschwörungstheorien hatten sie zur Hand.

In Europa ist geographisch eine Spaltung der radikalen Rechten zu beobachten. In Westeuropa sind es vor allem Rechtspopulist_innen die einen Ethnopluralismus vertreten, der Muslime und den Islam nicht in Europa will. In Osteuropa sind viele dieser Parteien sehr traditionell völkisch und antisemitisch. Woran liegt das?
Die Staaten in Osteuropa definieren sich seit ihrer Entstehung ethno-nationalistisch. Einzig die tschechische Republik ist da eine partielle Ausnahme. Schon die Unabhängigkeitsbewegungen gegen die Habsburger waren ethno-nationalistisch. Nach der Unabhängigkeit der einzelnen Staaten von Österreich-Ungarn bestanden viele ethnische Konflikte weiter. Die einzige säkulare Tradition in diesen Staaten war der Kommunismus. Der heutige reaktionäre Charakter vieler dieser Staaten und ihrer Bevölkerung ist ein Zeichen für das Scheitern des sowjetischen Modells. Aktuell sind die osteuropäischen Staaten in ernsthaften ökonomischen Schwierigkeiten. In Ungarn spricht Viktor Orban von einer weltweiten Verschwörung gegen Ungarn, er verbindet dies alles mit dem Namen eines Mannes: George Soros. Es ist kein Zufall das Soros jüdisch ist. (Mehr zu dem Thema in diesem Artikel) Im Westen war der Ethno-Nationalismus nicht so stark, weil die Nationen sich früher als bürgerliche Staaten konstituierten. Es gab auch immer eine Spannung zwischen dem ethnischen Charakter der Nation und ihrem formal politischen Anspruch. Im Westen will man wohl zumindest den Anschein erwecken, ein wenig kosmopolitisch zu sein. Im Fall von Österreich bin ich mir da aber nicht so sicher. Insgesamt bin nicht allzu optimistisch. Wenn man sich die Zwischenkriegszeit ansieht, kippten zwar zuerst die osteuropäischen Staaten nach rechts, doch diese Tendenz verschob sich danach Richtung Westen. AfD oder Pegida sind klar ethno-nationalistische Bewegungen mit starken antisemitischen Tendenzen. Sie geben sich öffentlich nicht so, aber sie sind es.

Es wird immer wieder gesagt, die Schwäche der Linken sei die Stärke der FPÖ. Die SPÖ würde ihre Werte eben gar nicht mehr vertreten.
Und was wäre sozialdemokratische Politik?

Ein Wohlfahrtsstaat der 1970er Jahre, Keynes.
Ja aber wenn das nicht geht? Es ist ein Dilemma. Egal ob SPÖ oder SPD, sie sind immer weniger und weniger Arbeiter_innenparteien. Aber das hängt mit den strukturellen Veränderungen zusammen. Der Untergang einer Klasse ist nie schön. Die Linke war sich darüber im Falle des Kleinbürgertums sehr bewusst. Aber sie stehen diesem Umstand im Falle der industriellen Arbeiter_innenklasse ein wenig hilflos gegenüber. Genau das passiert gerade: Es ist eine Krise der industriellen Arbeiter_innenklasse.

Und was wird mit dieser Klasse passieren?
Viele werden sehr arm und wütend werden. In den USA führt das auch zu einer Militarisierung der Gesellschaft. Es gibt immer mehr Menschen, die arbeitslos oder halb-angestellt sind. Das nennt man die Gig-Economy. Angelehnt ist das Wort an den Jazz-Musiker, der eine kurze Anstellung nach der anderen hat. Du kannst Taxi-Fahrer am Morgen, Putzfrau am Nachmittag und ein Nachwächter in der Nacht sein und trotzdem reicht es kaum zum Leben. Man muss immer flexibel sein und dies wird als Freiheit verkauft. Ich glaube wir sind in einer großen Krise und die Rechte wird davon profitieren. Die Rechte hat kein Programm, aber sie kann Wut kanalisieren. Die Linke will das nicht und versucht rational zu bleiben.

Aber es gibt linke Politiker, die das doch schaffen?
Bernie Sanders kann die Wut auch gut kanalisieren. Es gibt viele Arbeiter_innen, zumindest wenn man den Medien glauben kann, die nicht sicher sind, ob sie Donald Trump oder Sanders wählen sollen. Aber Sanders Lösungen sind auch nur linker Populismus. Dieser ist natürlich nicht reaktionär wie rechter Populismus. Aber es wird nicht funktionieren. Es sind nicht die Freihandelsverträge, die allein für den Rückgang der Beschäftigung verantwortlich sind. Ein Beispiel: Letztens las ich einen interessanten Artikel über die Tomaten-Ernte in Kalifornien. 1952 wurden 2,5 Millionen Tonnen Tomaten geerntet, dafür wurden 45.000 Arbeiter_innen beschäftigt. Dann entwickelten Forscher an der Universität von Kalifornien in Davis eine viereckige Tomate, die von Maschinen einfach geerntet werden konnten. Heute werden 12 Millionen Tonnen Tomaten geerntet und dafür werden 2.000 Arbeiter_innen beschäftigt. Das passierte nicht weil die Tomatenindustrie in ein anderes Land verlegt worden wäre. Diese Entwicklung der Wissenschaft und der Maschinen im beengenden kapitalistischen Rahmen ist der Hauptgrund dafür, dass es immer weniger Jobs gibt. Natürlich kann man die Handelsverträge kritisieren, auch diese neoliberale Phantasie, dass mehr Freihandel mehr Beschäftigung bedeutet. Aber wer behauptet, die strukturellen Veränderungen in den USA seien hauptsächlich durch die Handelsverträge entstanden, liegt einfach falsch. Das ist eine Verkürzung.

Michael Fischer studiert Deutsch und Geschichte auf Lehramt an der Universität Wien.

„Wie das riecht. So riecht Gerechtigkeit“

  • 13.03.2016, 15:56
Die neunjährige Hanna wächst Ende der 60er in der oberösterreichischen Stadt Wels auf. Auch 20 Jahre nach dem Krieg ist die Nazi-Ideologie spürbar. Die jüdische Herkunft Hannas Familie soll daher laut ihrer Mutter verborgen werden. Niemand will die „schlafenden Hunde“ der Vergangenheit wecken. Eine Rezension.

Die neunjährige Hanna wächst Ende der 60er in der oberösterreichischen Stadt Wels auf. Auch 20 Jahre nach dem Krieg ist die Nazi-Ideologie spürbar. Die jüdische Herkunft Hannas Familie soll daher laut ihrer Mutter verborgen werden. Niemand will die „schlafenden Hunde“ der Vergangenheit wecken. Eine Rezension.

„Schau mich nicht an. Schau mich nicht so an. Am liebsten wäre ich unsichtbar.“ Wie ein Mantra spricht Hannas Mutter diese Sätze vor dem Spiegel stehend. Auch wenn die Worte in erster Linie an ihren Mann gerichtet sind, meint sie wohl gleichzeitig auch ihr Spiegelbild, richtet die Worte an sich selbst. Hannas Mutter ist einer der titelgebenden „schlafenden Hunden“. Sie will nicht geweckt werden. Sie will nicht, dass irgendjemand ihre Vergangenheit weckt. Die Vergangenheit. Ihre jüdische Herkunft. Sie sollen unsichtbar bleiben, im Tiefschlaf verharren. So ihre Überlebensstrategie.

Die Verfilmung des 2010 veröffentlichten Romans von Elisabeth Escher lag für Andreas Gruber auf der Hand: Er ist selbst in Wels aufgewachsen, die Autorin eine Schulfreundin. Zudem solle „Hannas Schlafende Hunde“ an den 20 Jahre zuvor veröffentlichen Film „Hasenjagd“ anknüpfen, der die Ereignisse der sogenannten „Mühlviertler Hasenjagd“ von 1945 auf die Leinwand brachte. Er ist Grubers erster und gelungener Versuch den Nationalsozialismus filmisch aufzuarbeiten.

Nazi-Ideologie in Oberösterreich, die Zweite also: 1967 in der Stadt Wels, 22 Jahre nach dem offiziellen Kriegsende. Offiziell, denn: Die nationalsozialistische Ideologie und so auch der Antisemitismus sind nach wie vor in den Köpfen der Menschen verankert. In den Gesichtern der Figuren, in den Blicken und inszenierten Dialogen, mit denen Grubers Charaktere versuchen zu kommunizieren, zeichnen sich tiefsitzende Kriegs-Traumata ab. Nach wie vor. Nicht nur an der älteren, sondern auch an der jüngeren Generation zehrt die Vergangenheit.

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Im Mittelpunkt des Geschehens steht die neunjährige Hanna (Nike Seitz). Sie singt gern. Egal ob „Kein schöner Land“ auf einem „Totengedenken des Kameradenverbunds“ am 8.Mai oder „Schweigen möchte ich gern“ während des Gottesdienstes. Als katholisch erzogenes Mädchen wächst sie bei ihrer Mutter, ihrem Vater und ihrer Großmutter auf. Letztere ist Hannas wichtigste Bezugsperson: Für die Oma (Hannelore Elsner) dichtet sie gemeinsam mit ihrem Bruder ein Lied. Mit der Oma lässt sie Löwenzahn-Stängel im Wasser einkringeln. Von der Oma erfährt sie, dass sie Jüdin ist: „Natürlich, bist du Jüdin.“ Was das heißt? „Jeder soll sein, was er ist. Punkt.“ Mit der Oma blickt sie aus dem Fenster, während im Hof ein verbrannter Körper abtransportiert wird: „Wie das riecht. So riecht Gerechtigkeit“. Der abtransportierte Körper gehört dem Hauswart. Nicht lang her verwehrte er der Großmutter als Jüdin den Zutritt zum schützenden Keller. Nun ist er es dem der Keller zum Verhängnis wurde

Sehen kann Hannas Großmutter schon lange nicht mehr. Sie ist blind. Die Folge eines Bombenangriffs: „Ich dachte, ich verliere meinen Verstand, … aber ich habe nur mein Augenlicht verloren.“ Der Geruchssinn funktioniert dafür allzu gut.

Dem gegenüber steht Hannas Mutter (Franziska Weisz). „Wir fallen nicht auf!“ ist ein weiteres Mantra, das die Mutter nicht müde wird zu wiederholen, insbesondere gegenüber ihren Kindern. Sie tut alles, „um nicht aufzufliegen“. Nicht auffliegen heißt dabei: Die jüdische Herkunft penibelst vor der Stadtbevölkerung, vor ihren Kindern, aber auch vor sich selber zu verheimlichen, einfach zu vergessen. So gibt es auch keine Kinderbilder mehr von der Mutter, denn „jedes Foto hätte uns verraten“. Hannas Mutter verharrt dabei nicht nur in einer Totenstarre, sondern sieht sich nur allzu gern in der Opferrolle, ein Vorwurf der von Hannas Großmutter kommt, vor allem weil Hannas Mutter die Opferrolle auch von anderen verlangt: „Das ist genau das, was dir am Katholisch-Sein so gut gefällt: Da kannst du schön leiden und die anderen sollen es gefälligst auch.“

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Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich Hanna. Trotz der Bemühungen ihrer Mutter wird ihr nach und nach klar, dass sie auf irgendeine Weise anders ist: Ihre Klassenlehrerin fragt neugierig und abschätzig nach der Herkunft ihrer Oma. Dass sie aus Wels ist, sei unwahrscheinlich, denn „sie spricht nicht wie eine Hiesige.“ Ein Klassenkamerad beschimpft sie und deutet dabei auf ein Anderssein von Hanna hin. Ein Nachbar belästigt sie im betrunkenen Zustand sexuell und schimpft sie „Judengfrast“. Hanna will wissen, was all das zu bedeuten hat. Sie weckt die schlafenden Hunde, macht die Vergangenheit sichtbar. So emanzipiert sie nicht nur sich selbst, sondern holt auch ihre Mutter aus der Erstarrung und aus ihrer Opferrolle.

Andreas Gruber erzählt von drei Frauen-Generationen, die alle auf ihre Art einen Weg suchen, um mit dem Stigma, mit dem Hass, mit dem Antisemitismus umzugehen: Ob mit dem Versuch der Selbstauslöschung oder dem Versuch, dem Hass stolz entgegen zu blicken – auch ohne Augenlicht oder durch das ständige Nachfragen, durch kindliche Neugier. Hanna, ihre Mutter und ihre Großmutter sind in ihren alltäglichen Kämpfen umgeben von „antisemitischer Normalität“, wie es Gruber selbst beschreibt: „Ich möchte eine nicht immer gleich erkennbare Scheinwelt von Normalität erschaffen, in der selbst die ungeheuerlichsten braunen Rülpser zur Normalität gehören. Man könnte in Anlehnung an Hannah Arendt von der Trivialität und Selbstverständlichkeit des Bösen sprechen. Durch eine besonders lapidare, unbetonte Inszenierung soll eine Monstrosität der Figuren verhindert werden – weil es ihnen eine unverdiente Größe geben würde.“ Auch wenn Gruber seiner abgebildeten Welt keine Monstrosität zuschreiben will und nicht auf Gewaltorgien zurückgreifen muss, um das Grauen der Nazi-Ideologie sichtbar zu machen, zeichnet er eine Welt, geprägt von Ungeheuerlichkeiten, von Hass und Misstrauen, das nur schwer zu überwinden ist. Hannelore Elsner bringt die Schrecken der Zeit im Publikumsgespräch auf den Punkt: „Diese Zeit stößt mich ab: ihre Verlogenheit, ihre Bigotterie, ihre Sprachlosigkeit.“

Valentine Auer arbeitet als freie Journalistin in Wien.

Warum der Nationalsozialismus von den alliierten Staaten angeklagt wurde

  • 08.03.2016, 20:48
Zwischen November 1945 und Oktober 1946 fand im Nürnberger Justizpalast ein bisher einzigartiger Strafprozess statt.

Zwischen November 1945 und Oktober 1946 fand im Nürnberger Justizpalast ein bisher einzigartiger Strafprozess statt.

Vor dem zu diesem Zweck geschaffenen Internationalen Militärtribunal (IMT) wurden 24 „Nazi-Führer“ und sieben nationalsozialistische Organisationen angeklagt. Die vier Hauptanklagepunkte stellten eine Reaktion auf das bis dahin nicht gekannte Ausmaß und die Schwere der Gewalt des Nationalsozialismus dar. Die Anklage ist auch das Ergebnis einer Deutung dieser verbrecherischen Gewalt und Herrschaftsform.

DER JURISTISCHE BLICK. Der Prozess gilt als Meilenstein in der Entwicklung des Völkerrechts. Betont wird dabei die erstmalige individuelle Bestrafung von Spitzenfunktionären eines Staates. Die Alliierten selber nannten sie „Führer, Organisatoren, Anstifter und Mittäter“. Das IMT wird als Beginn einer Zäsur im internationalen Strafrecht gesehen, an deren Ende die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) in Den Haag steht. Dieser soll einen überstaatlichen Schutz von Menschenrechten und die Verfolgung einzelverantwortlicher „Menschenrechtsverbrecher“ ermöglichen. Der IStGH steht vor der Herausforderung seine Gerichtsbarkeit durchzusetzen, und als überstaatliches Gericht von Staaten anerkannt zu werden. Das IMT in Nürnberg stand vor ganz anderen Herausforderungen: Der nationalsozialistischen Gewalt und der Wahrnehmung, dass es die Verbrechen waren, die überstaatlich, also international, waren. Für die Anklage der NSHerrschaft fehlte nicht nur das Gericht, es existierten noch nicht einmal strafrechtliche Kategorien für die bis dahin nicht gekannte Form der Gewaltverbrechen und der politischen Organisationsform der TäterInnen. Das Statut für das IMT wurde im August 1945 auf einer alliierten Konferenz in London verhandelt und schließlich beschlossen. Die Umsetzung einer Anklage der NS-Herrschaft erforderte mehr als Diplomatie.

VIER HAUPTANKLAGEPUNKTE. Das Verbrecherische an den Gewalttaten der NationalsozialistInnen musste zuerst bestimmt werden – auch, um darauf aufbauend völkerrechtlich relevante Brüche von „Vertragsrecht, Gewohnheitsrecht und allgemeinem Gewissen“, den nach Aussage Whitney Harris, eines der US-amerikanischen Ankläger, drei Hauptquellen des Völkerrechts, bestimmen und strafrechtlich kodifizieren zu können. Das Ergebnis waren vier bis dahin völkerrechtlich nie zuvor angewandte Verbrechenskategorien: „Verbrechen gegen den Frieden“, „Kriegsverbrechen“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Der vierte Vorwurf – „gemeinsamer Plan oder Verschwörung“ zur Begehung dieser genannten Taten – zielte vordergründig auf die Verantwortlichen ab, wobei die Anklagebehörden damit auch versuchten, einen Zusammenhang zwischen den Taten zu betonen.

Vor dem Schritt der Rechtsfindung und -anwendung mussten die Alliierten eine gewissermaßen kriminologische Einordnung, also das Verbrechen bestimmende oder erklärende Einordnung des Nationalsozialismus, vornehmen. Diese auch als Deutung des Nationalsozialismus und seiner Gewalt zu begreifen, erscheint hier besonders wichtig.

DIE ZIVILISIERTE STAATENWELT. Das Ergebnis dieser Deutung drückte sich in der Selbstwahrnehmung der Ankläger aus. So sah etwa der US-amerikanische Ankläger Robert Jackson als „wahre Klägerin vor den Schranken dieses Gerichts“ die Zivilisation. Die Verbrechen, die in Auschwitz und anderen Vernichtungslagern begangen wurden, an jenen Orten, an denen der „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) des Nationalsozialismus manifest wurde, standen allerdings gar nicht im Fokus der Anklage. Wie ist diese Aussage Jacksons dann aber zu verstehen? Die Anklagekonzeption war zu jedem Zeitpunkt auf den deutschen Angriffskrieg ausgerichtet. Zeitlich und logisch wurden seine Vorbereitung und Planung als „Knotenpunkt“ (Jackson) gesehen. „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ wurden als Folge der Vorbereitung und Durchsetzung des Krieges gesehen. Systematische – auch die antisemitisch und antislawisch motivierte – Gewalt wurden im zeitlichen Verlauf des Krieges und der Okkupation gesehen und unter „Kriegsverbrechen“ subsumiert. Dem Sinnbild der Alliierten entsprechend, klagte die Zivilisation den Krieg der Nazis an. Hannah Arendt schrieb in ihrem Denktagebuch: „Das internationale Recht beruhte im Kriege darauf, dass innerhalb der zivilisierten Welt, auch wenn der ‚consensus‘ zwischen den Staaten abgebrochen war, derjenige ‚consensus‘, auf dem jeder von ihnen beruhte, unangetastet bleiben musste. Ohne dies wäre jeder Krieg zu einer Bedrohung des gesetzlich festgelegten Systems des Staates selbst geworden.“ Die Anklage richtete sich genau gegen die vom nationalsozialistischen Krieg ausgehende besondere Bedrohung.

KRIEG GEGEN DIE ZIVILISATION. Die Beweisführung zu den „Verbrechen gegen den Frieden“ zeigte, worin die Bedrohung der Zivilisation gesehen wurde: in einer fundamental gegen die Anerkennung von staatlicher Souveränität gerichtete Kriegspolitik. Der britische Ankläger Hartley Shawcross beschrieb etwa am Beispiel der von Deutschland betriebenen Zerschlagung und Annektierung des tschechoslowakischen Staates, wie die Bedingungen internationaler Beziehungen zerstört wurden. Das zeigt sich an der Behauptung der NationalsozialistInnen dort Gebiete zu okkupieren, die man als von sogenannten „Volksdeutschen“ bewohnt ansah. Nach nationalsozialistischem Verständnis, erklärte Jan Philipp Reemtsma, war der Krieg keiner zwischen Staaten, sondern ein „Rassenkrieg“. Die Ankläger erkannten darin explizit einen Angriff auf die Bedingungen staatlicher Souveränität. Vor Gericht wurde damit der „Mythos von der Rassegemeinschaft“, wie es der französische Ankläger François de Menthon ausdrückte, thematisiert. Die rassenideologischen Versuche festzustellen, wer „Volksgenosse“ war, mündeten seiner Ansicht nach auch in der Hierarchisierung von „Rassen“.

Die „Resubstantialisierung der einst abstrakten staatsrechtlichen Begriffe“, wie Ingeborg Maus diesen politischen Prozess kritisch nannte, und die „Rassifizierung“ des Rechts waren ein Angriff auf die Herrschaft des Gesetzes, die in bürgerlich-kapitalistischen Staaten der Form nach gleiche Rechte und Schutz für alle sichert. So lange nämlich die Rechtsordnung universal ist, schrieb Franz Neumann in seiner Analyse der NS-Herrschaft 1942, garantiert sie „auch ein Minimum an Freiheit, da das allgemeine Gesetz zweiseitig ist und so auch den Schwachen wenigstens rechtliche Chancen einräumt“.

LOGIK DES VERBRECHENS. Deutschland betrieb in den überfallenen Staaten eine vom sowjetischen Ankläger Roman Rudenko beschriebene Vernichtung „aller demokratischen Einrichtungen und bürgerlichen Rechte der Bevölkerung“. Ankläger de Menthon sah in dieser ideologischen und praktischen Entgrenzung der Gewalt eine eigene „Logik des Verbrechens“. Das NS-Regime erkannte nicht nur keine völkerrechtlichen Beziehungen zwischen den Staaten an, „großangelegter, geplanter und systematischer Mord [wurden] zur wesentlichen Aufgabe einer fest gefügten und scheinbar sicheren kriegerischen Besetzung“, so Shawcross.

Die völkische Ideologie wurde vor allem in Gestalt ihrer logischen Feindschaft zu den Bedingungen eines „rechtlich gehegten Zusammenlebens der ‚zivilisierten‘ Völker“ (Erhard Denninger) angeklagt. Der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess war keine Sammelklage der von einem „Führerstaat“ in ihren Grenzen verletzten Staaten. Angeklagt wurde eine „Verschwörung gegen die Welt“ (Jackson).

VERSCHWÖRUNG, KEIN FÜHRERSTAAT. Otto Stahmer, der Verteidiger Hermann Görings in Nürnberg, erklärte vor Gericht, ein Diktator zwinge zur Umsetzung seines Planes, eine „Verschwörung mit einem Diktator an der Spitze [sei] ein Widerspruch in sich selbst“. Dieser Einwand überraschte die Ankläger wenig, war es ihnen mit der konzeptionellen Annahme einer „Verschwörung“ konkret daran gelegen zu verhindern, dass sich die Angeklagten hinter dem Staat als „metaphysischen“ Schuldigen oder Hitler als „Diktator“ der Verbrechen verstecken konnten. Zwar sah man auf der Nürnberger Anklagebank, den Worten des französischen Anklägers Charles Dubost nach, „das Gehirn dieses Staates“ sitzen. Die Deutung einer „Verschwörung“ ist jedoch auch Reaktion auf die spezifische Machtverteilung im Herrschaftsgefüge des NS, dessen politische Organisationsform an Stelle einer allgemein zentralisierten Gewalt vielmehr einen „gemeinsamen Plan“, etwa jene besagten „Knotenpunkte“, aufwies.

Die Ankläger hatten aus den Gewaltphänomenen auf die politische Struktur der nationalsozialistischen Herrschaft geschlossen. Das heißt, der alliierte Deutungsprozess im Rahmen der Anklage limitierte sich auf eine herrschaftsstrukturelle Beschreibung des Nationalsozialismus. Schwachpunkt dieser Wahrnehmung ist, dass sie das „Selbststabilisierungspotenzial“ (Winfried Süß) des NS weiterhin in seiner politischen Organisationsform vermuten musste. Sie musste also so sehr auf die Existenz einer gemeinsamen „Verschwörung“ zur Begehung der Verbrechen pochen, dass sie gewissermaßen in jene Sackgasse lief, an deren Ende den spezifisch nationalsozialistischen Gewaltverbrechen – dem „Zivilisationsbruch“ – eine sinnvolle Herrschaftsfunktion zugeschrieben werden musste. Darum erhielt der Antisemitismus ausgerechnet an dieser Stelle des Prozesses auch die meiste Aufmerksamkeit. Die antisemitische Verfolgung und Vernichtung wurde auf die Funktion als Speerspitze der Drohung gegen potenziellen Widerstand reduziert. Diese Wahrnehmung des Antisemitismus kann die in den Konzentrationslagern betriebene Vernichtung um ihrer selbst willen nur rationalisieren. Sie muss übergehen, dass in Auschwitz die „praktische Widerlegung der Prinzipien von Zweckrationalität und Selbsterhaltung“ wirklich wurde, wie Dan Diner sagte.

Wenn Ankläger Shawcross den Antisemitismus als „Bindemittel zwischen Volk und Regime“ bezeichnete, so scheint den Anklägern dennoch etwas von der Bedeutung des irrationalen Wahns für die Stabilisierung der nationalsozialistischen Gesellschaft bewusst geworden zu sein. „[D]ie Juden zu vernichten“, war Ankläger Jackson zufolge „eine bindende Kraft, die jederzeit die einzelnen Teilkräfte dieser Verschwörung zusammenhielt“.

ANALYSE UND ANKLAGE. Die Anklage war nicht das Ergebnis einer „herrschaftstheoretischen“ (Alfons Söllner) Analyse des Nationalsozialismus. Die Wahrnehmung der NS-Gewalt als verbrecherische implizierte eine Deutung der Herrschaft des Nationalsozialismus in Abgrenzung von den politischen Herrschaftsformen der anklagenden Staaten. Gegenstand des Prozesses war das „unstaatliche“ (Franz Neumann) Gewaltverhältnis des NS. Darin zeigt sich deutlich die Differenz der Gegenstände von IMT und IStGH. Eine kritische Analyse aktueller Ideen internationaler Strafgerichtsbarkeit kann hier ihren Ausgangspunkt finden.

Raphael Heinetsberger studiert Politikwissenschaft in Wien und Hamburg.

„Erinnern heißt auch handeln“

  • 05.12.2015, 12:48

Der Verein Erinnern Gailtal präsentiert sein neues Buch „Ausgelöschte Namen. Die Opfer des Nationalsozialismus im und aus dem Gailtal“.

Der Verein Erinnern Gailtal präsentiert sein neues Buch „Ausgelöschte Namen. Die Opfer des Nationalsozialismus im und aus dem Gailtal“.

Der Verein Erinnern Gailtal und sein Obmann Bernhard Gitschtaler bekamen 2014 mediale Aufmerksamkeit durch einen Prozess, den sie gegen die FPÖ führten. 2015 ist der Anlass dafür erfreulicher: Bernhard Gitschtaler gibt sein zweites Buch heraus. „Ausgelöschte Namen. Die Opfer des Nationalsozialismus im und aus dem Gailtal“, welches sich 200 Biographien von Opfern aus dem Tal im Südosten Kärntens widmet.

In den vielschichtig aufgearbeiteten Geschichten der Opfer werden die Kontinuitäten der Diskriminierung vor und nach der NS-Zeit deutlich. Die Diskriminierung der Kärntner Slowen_innen im 19. Jahrhundert findet ebenso Eingang in das Buch wie die fehlende Entschädigung von Jüd_innen nach 1945. Damit werden die Ereignisse während des Nationalsozialismus politisch und historisch kontextualisiert. Diese Kontextualisierung „soll es ermöglichen, die jeweiligen Biographien und Leidensgeschichten besser zu verstehen“ und damit, so Gitschtaler, „auch Menschen, die sich mit der Thematik noch nicht befasst haben, einen Zugang ermöglichen“. Das ist ihm und seinen Autor_innen definitiv gelungen und so richtet sich das Buch an ein breites Publikum und nicht nur an Historiker_innen und eingearbeitete Antifaschist_innen.

Aber auch für diese hat der Band einiges zu bieten, ist er doch der erste, der aller NS-Opfer aus dem Gailtal erinnert.Die Biographien werden in thematische Gruppen zusammengefasst, denen jeweils ein Kapitel vorangestellt ist, in dem die nationalsozialistische Verfolgung der Opfergruppe – sowohl allgemein im gesamten NS-Staat als auch konkret im Gailtal – beschrieben wird.

Der Band beginnt mit der Recherche zur SS-Aktion „Arbeitsscheu Reich“ gegen sogenannte Asoziale, eine Opfergruppe, die erst langsam und viel zu spät im Erinnerungsdiskurs ihren Platz findet. Es folgt ein ausführlicher Beitrag von Wolfgang Haider über die Opfer der NS-„Euthanasie“. Gerade bei dieser Gruppe, schreibt Haider, sei es lange üblich gewesen, nur die Vornamen der Opfer zu nennen und sie damit aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen. Durch die Opferbiographien wird klar, wie viele Personen sich ihrer Behandlung widersetzten – dadurch wird mit dem Stereotyp des passiven Opfers gebrochen. Im Buch werden erstmals alle NS- „Euthanasie“-Opfer aus dem Gailtal genannt. Viel recherchiert wurde hier auch zu den Täter_innen: Der Abschnitt bearbeitet die Rolle der Ärzt_innen und Pfleger_innen und gibt einen tiefen Einblick in deren Mordpraktiken, Ideologie und Autoritätshörigkeit.

Rom_nija und Sint_ezze, Homosexuelle, Jüd_innen, Kärntner Slowen_innen, Geistliche, Zeugen Jehovas, Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter_innen, Widerständige, Deserteure, politisch Andersdenkende und Kritiker_innen des NS-Regimes erfahren in „Ausgelöschte Namen“ eine würdige Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus. Die Geschichte dieser Opfergruppen, die in unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlichen ideologischen Vorzeichen verfolgt und ermordet wurden, wird ausführlich erklärt und konkret auf die Region bezogen.

Über die ausgelöschten Namen hinaus wird im Buch die Geschichte des Gailtals während des Nationalsozialismus erzählt. Die Leser_innen erfahren vor allem viel über die Partisan_innen im Tal – ein Thema, das in Kärnten wie auch im restlichen Österreich lange totgeschwiegen wurde und sehr umkämpft ist. Im unteren Gailtal formierte sich 1943 die Gruppe der Schütt-Partisan_innen, die heute noch ein großes Tabu darstellt.

Einziges Manko des Buches stellt das Kapitel über Homosexuelle im NS dar, das vorgibt, sich mit der Geschichte homosexueller Männer und Frauen zu beschäftigen, de facto zweitere aber außen vor lässt. Das zeigt sich schon im Titel „Der Rosa Winkel – Homosexuelle als NS-Opfer“. Frauen trugen keine rosa Winkel. Lesben wurden nicht systematisch verfolgt, aber dennoch oft als sogenannte Asoziale in KZs gebracht und mit einem schwarzen Winkel versehen. Diese Tatsache wird im Buch leider nicht erwähnt.

Der Androzentrismus spiegelt sich auch in der Sprache des Buches wider. Es kann darüber diskutiert werden, ob der deutschsprachige Buchmarkt es verunmöglicht zu gendern. Wenn sich die Autor_innen aber dazu entschließen, ausschließlich die männliche Form zu verwenden, dann sollten sie auch im Kapitel zur NS-„Euthanasie“ konsequent bleiben und Pflegerinnen bei den Pflegern „mitmeinen“ und nicht durchgehend die sexistische Bezeichnung „Schwestern“ unnötigerweise hinzufügen.

Bei der Lektüre wird immer wieder deutlich, wie sehr im Gailtal versucht wurde und wird, die NS-Opfer aus dem kollektiven Gedächtnis der Region zu löschen. Dem versucht das Buch etwas entgegenzusetzen. Dabei legen die Autor_innen ihren Forschungsprozess offen dar und erzählen davon, dass es ihnen wichtig war, die persönlichen Erfahrungen der Opfer miteinzubeziehen, dass ihnen des Öfteren Steine in den Weg gelegt wurden und dass sich die Recherche manchmal schwierig gestaltete.

„Erinnern heißt auch handeln“, heißt es im Vorwort zu „Ausgelöschte Namen“, und der Herausgeber erklärt, dass Erinnerungsarbeit nur dann erfolgreich sein könne, wenn sie eine Sensibilisierung für die Ausgrenzungsmechanismen der heutigen Zeit schaffe. Diese aufklärerische Herangehensweise zeichnet das Buch ebenso aus wie die sehr aufwendige und genaue Recherchearbeit.

 

Katharina Gruber hat Politikwissenschaft in Wien studiert und ist in der politischen Bildungsarbeit und im Journalismus und in der Sozialarbeit tätig.

„Ich habe ein Leben geführt, das ich nicht bereue“

  • 01.06.2015, 13:18

Maria Cäsar, 1920 im slowenischen Prevalje geboren, kam in der Nachkriegszeit nach Judenburg. Als die Repression zunahm, wurde die Antifaschistin im politischen Untergrund aktiv. In ihrem Haus in St. Peter bei Graz sprach sie mit progress über Widerstand, Haft und die FPÖ.

Maria Cäsar, 1920 im slowenischen Prevalje geboren, kam in der Nachkriegszeit nach Judenburg. Als die Repression zunahm, wurde die Antifaschistin im politischen Untergrund aktiv. In ihrem Haus in St. Peter bei Graz sprach sie mit progress über Widerstand, Haft und die FPÖ.

„Es hat einige Menschen gegeben, die Widerstand geleistet haben und dazu habe auch ich gehört“, erzählt die Zeitzeugin Maria Cäsar auf ihrem Balkon mitten im grünen St. Peter bei Graz. Am Weg durch ihr kleines Haus schaltet sie an diesem sonnigen Tag alle Lichter ein. „Erst in den 70er Jahren wurde aufgearbeitet, dass Österreicher_innen nicht Opfer des Nationalsozialismus, sondern auch Täter_innen waren.” Die 94-Jährige wirkt konzentriert, wenn sie über Politik diskutiert. Die Antifaschistin hat die Befreiung vom NS-Regime – den „Feiertag über den Faschismus“ wie sie ihn bezeichnet – miterlebt: „Wir waren froh, dass diese schreckliche Zeit endlich vorbei war, aber wie es weitergehen soll, wussten wir nicht.” Der Wiederaufbau sei nicht einfach gewesen. Hitler habe den ÖsterreicherInnen einen „blühenden Alpengarten“ versprochen. Geblieben sei „ein Trümmerfeld“, so Cäsar.

POLITISCHER UNTERGRUND. Maria Cäsar wurde am 13. September 1920 im slowenischen Prevalje in eine sozialistische Arbeiter_innenfamilie geboren. Nach dem Ersten Weltkrieg zog die Familie in das steirische Murtal nach Judenburg. Dort schloss sich der Vater dem republikanischen Schutzbund und Maria den Roten Falken an, weil sie „über die damalige Situation Bescheid gewusst haben“, erklärt die Kommunistin mit einer gewissen Selbstverständlichkeit. „Ich war ein aufgewecktes Kind. Mein Vater hat manchmal gesagt, dass an mir ein Bub verloren gegangen sei“, lächelt Maria Cäsar. Die Zwischenkriegszeit war von hoher Arbeitslosigkeit, Armut und Perspektivenlosigkeit geprägt. Die Menschen waren empfänglich für Propaganda. Repression spürte Maria Cäsar das erste Mal im Jahr 1933, als Parteien und Verbände verboten wurden. „Ich war damals jung, aufgeschlossen und kritisch. Ich hatte Fragen, die nicht beantwortet wurden.“ So erläutert die Widerstandskämpferin ihre Motivation für einen aussichtslos wirkenden Kampf. Die damals 14-Jährige wurde im Februar 1934 durch den Kommunistischen Jugendverband im politischen Untergrund aktiv und verteilte Flugblätter.

Gemeinsam mit 41 weiteren jungen AktivistInnen wurde Maria Cäsar von der Gestapo 1939 – ein Jahr nach dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland –  verhaftet. „Damals warst du entweder für oder gegen Hitler. Wenn du gegen Hitler warst, warst du ein Feind“, so die Antifaschistin. „Vorbereitung zum Hochverrat“ lautete die Anschuldigung. Die junge Frau verbrachte über ein Jahr im Landesgericht Graz in Untersuchungshaft. „Das Wichtigste, wenn du verhört wirst? Nicht zu reden“, weiß Maria Cäsar. Die Gestapo bot an, dass sie gegen die Preisgabe von Namen nach Hause gehen könne. Die junge Frau aber schwieg und kam dafür in den Kerker: „Dort habe ich am eigenen Leib gespürt, was der Nationalsozialismus wirklich bedeutet.“

FLUCHT NACH SLOWENIEN. Während ihrer Zeit als politisch Gefangene lernte Maria Cäsar ihren ersten Mann kennen. Die beiden heirateten nach ihrer Freilassung und Maria Cäsar gebar einen Sohn. 1943 fiel ihr Ehemann an der Front. Cäsar stellte in Folge Kontakt zu jugoslawischen Partisanen und Widerstandsgruppen in Judenburg her. Ein Jahr später wurden Mitglieder der Widerstandsgruppe verhaftet. Die junge Mutter fürchtete, dass die Gestapo auch nach ihr sucht und tauchte ohne ihr Kind bei slowenischen Verwandten unter: „Das war kein leichter Entschluss für mich, denn mein Sohn war gerade erst drei Jahre alt.“ Betroffen fügt sie hinzu: „Es war die einzige Entscheidung, um zu überleben.“ Ihre Mutter bekräftigte Maria darin, unterzutauchen. „Nachdem Hitler einmarschiert ist, ist ein Zug nach Dachau gefahren“, erzählt Cäsar leise. Dem Konzentrationslager sei sie damals nur entkommen, weil die Lager in Österreich noch nicht weit genug ausgebaut waren. Neben Mauthausen entstanden später zahlreiche Außenlager. „Die Tatsache, dass es solche Lager gibt, hat meinen Geist und meine Widerstandsfähigkeit so gestärkt, dass ich nie für den Nationalsozialismus gewesen bin. Jeder Mensch hat ein Recht auf Leben.“

Die Gefahr des Faschismus sei nach wie vor gegeben. „Viele Junge sagen, es gehört ein starker Mann her. Doch was wir wirklich brauchen, ist eine starke Demokratie“, mahnt Maria Cäsar. Dass die FPÖ wächst, sei kein Zufall, sondern liege an der prekären wirtschaftlichen Situation und dem Scheitern der Migrationspolitik. Das Sprichwort „wehret den Anfängen“ ist laut der Antifaschistin aktueller denn je.

EIN LEBEN LANG GEGEN FASCHISMUS. Nachdem Maria Cäsar 1950 als alleinerziehende Mutter nach Graz gezogen war, wurde sie bei der Kommunistischen Partei aktiv. Dort lernte sie ihren zweiten Mann kennen. Sie arbeitete bei der Roten Hilfe mit, war im KZ-Verband und in der Frauenbewegung aktiv. „Das zeichnet mein Leben aus“, so Cäsar. Die Zeitzeugin hat jungen Menschen jahrelang im Rahmen von Vorträgen ihre Geschichte erzählt, denn „die Zukunft muss man selbst gestalten und die Jugend ist die Voraussetzung für eine bessere Welt.“ Cäsar selbst hat sich verpflichtet, ihr Leben lang gegen den Faschismus aufzutreten: „Die Menschen, die damals ihr Leben gelassen haben, sind nicht umsonst gefallen“, zeigt sich die Antifaschistin überzeugt. Ein Freund, den Cäsar im Landesgericht Graz kennengelernt hatte, wurde hingerichtet. Hätte dieser ihren Namen preisgegeben, wäre Maria Cäsar 1944 im Konzentrationslager gelandet: „Mein Leben habe ich diesem Menschen zu verdanken und das halte ich hoch.“ Für ihr Engagement und ihren Einsatz wurde die Kommunistin mehrfach geehrt, das letzte Mal 2014 mit dem großen Ehrenzeichen des Landes Steiermark.

ZERFALL UND ZUKUNFT. Die politischen Entwicklungen des 20. jahrhunderts sieht Maria Cäsar pragmatisch. „Es gibt nun mal Enttäuschungen, aber das Rad der Gesellschaft dreht sich weiter, es bleibt nicht stehen.“ Die 94-Jährige glaubt nach wie vor fest daran, dass eine linke Bewegung für eine bessere Welt notwendig sei, denn im Kapitalismus könne es keine Gerechtigkeit geben, nur das Streben nach Profit. „Es gibt Arme und Reiche in der Gesellschaft“, so Cäsar. Umverteilung sei die Voraussetzung für ein Leben in der Zukunft. „Ich stehe zu dem, zu dem ich immer gestanden bin: zu einer gerechten und friedlichen Welt. Ich habe ein Leben geführt, das ich nicht bereue.“

 

Sara Noémie Plassnig studiert Journalismus und Public Relations an der FH JOANNEUM in Graz.

Nie wieder Schlussstriche: Zur Entnazifizierung der Österreichischen Unis

  • 17.03.2015, 12:00

Österreichs Universitäten waren schon Jahre vor dem „Anschluss“ Brutstätten für deutschnationale Eliten, reaktionäre Gesellschaftskritik und Antisemitismus. Ein historischer Überblick und warum die Entnazifizierung nach 1945 zum Scheitern verurteilt war.

Österreichs Universitäten waren schon Jahre vor dem „Anschluss“ Brutstätten für deutschnationale Eliten, reaktionäre Gesellschaftskritik und Antisemitismus. Ein historischer Überblick und warum die Entnazifizierung nach 1945 zum Scheitern verurteilt war.

Am 31. März 1965 wurde der kommunistische Widerstandskämpfer Ernst Kirchweger von einem Mitglied des Rings Freiheitlicher Studenten (RFS) auf einer Demonstration niedergeschlagen. Er erlag zwei Tage später seinen Verletzungen und ging als „erstes politisches Todesopfer in der Zweiten Republik“ in die Geschichte ein. Die Demonstration richtete sich gegen den Professor für Wirtschaftsgeschichte Taras Borodajkewycz, der in Vorlesungen und Interviews aus seinem Antisemitismus und seiner Treue zu Großdeutschland keinen Hehl machte. Obwohl er bereits 1934 in die verbotene NSDAP eingetreten war und als wichtiger Vermittler zwischen dem faschistischen Österreich und Nazideutschland fungiert hatte, wurde er später als „Minderbelasteter“ eingestuft.

In der Zwischenkriegszeit war Borodajkewycz mit seinem deutschvölkischen Denken an den österreichischen Universitäten in guter Gesellschaft. "Was die Erste Republik betrifft, so ging es unserer Intelligenz, der studentischen und professoralen, einfach gesagt darum, ein neues Gesellschaftsprinzip zu entwickeln und auf den Hochschulen einzuführen. Gegen das republikanische Staatsbürgerprinzip wurde das völkische Volksbürgerschaftsprinzp gestellt. Der Kampf um eine studentische Vertretungskörperschaft mündete schließlich 1930 in einem sogenannten Studentenrecht, das die Studenten nach ihrer "Abstammung und Muttersprache" organisieren sollte", so die Historikerin Brigitte Lichtenberger-Fenz. Jüdinnen und Juden wurden von allen Möglichkeiten der Mitbestimmung an der Uni Wien ausgeschlossen. Als das Studentenrecht 1931 aus formalen Gründen wieder aufgehoben wurde, kam es in Folge immer wieder zu Demonstrationen und gewaltsamen Übergriffen auf jüdische, ausländische und marxistische Kommiliton*innen.

ERZIEHUNG IM AUSTROFASCHISMUS. Der Ständestaat wusste die antisemitische und antidemokratische Stimmung im Land für sich zu nutzen und versuchte seine österreichnationale und katholisch-fundamentalistische Spielart des Faschismus auch an den Universitäten durchzusetzen. In einem Gesetz von 1934 „betreffend der Aufrechterhaltung der Disziplin unter den Studierenden“ wurde die Betätigung für eine verbotene Partei mit einem Verweis von mindestens zwei Semestern unter Strafe gestellt. Im Aktenbestand des Universitätsarchivs der Uni Wien zeigt sich, dass mehr als die Hälfte der 309 Disziplinarverfahren NS-Aktivist*innen traf, sie wurden jedoch weitaus seltener tatsächlich von der Uni verwiesen als im linken Umfeld verortete Studierende. Das Hochschulerziehungsgesetz von 1935 machte schließlich den Zweck von Hochschulen im Austrofaschismus klar: Neben „Pflege der Forschung und Lehre“ galt es „auch die Erziehung (...) zu sittlichen Persönlichkeiten im Geiste vaterländischer Gemeinschaft“ zu forcieren. Hierfür gab es Vorlesungen zur „weltanschaulichen und staatsbürgerlichen Erziehung“ und in den Sommerferien „Hochschullager“ für Männer bzw. eine „Schulungsdienstzeit“ für Frauen „in besonderer Anpassung an die weibliche Eigenart“. Besondere Bedeutung hatte damals der Österreichische Cartellverband (ÖCV), dessen Mitglieder wichtige Positionen im Staat innehatten. Nicht zuletzt war auch Bundeskanzler Engelbert Dollfuß ein „Bundesbruder“ und wird im ÖCV heute noch für seinen „Kampf für die Unabhängigkeit Österreichs“ gefeiert.

NAZIFIZIERUNG UND ENTNAZIFIZIERUNG. Alle Bemühungen von Dollfuß‘ Nachfolger Kurt Schuschnigg, mittels Annäherung an das Deutsche Reich und teilweiser Aufhebung des NS-Verbots die Souveränität Österreichs aufrechtzuerhalten, scheiterten. Seine geplante Volksabstimmung platzte und damit auch die letzten Hoffnungen derer, die nicht den rassischen Kriterien der Nazis entsprachen. Als im März 1938 die „Wiedervereinigung vollzogen“ war, jubelten Arbeiter*innen und Akademiker*innen gleichermaßen. Burschenschaften und Corps gingen freudig im Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB) auf. Sofort wurde mit der Vertreibung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung begonnen. An der Uni Wien wurden 45 Prozent des Lehrpersonals entlassen und die Zahl der Studierenden sank um 42 Prozent. Ab 1939 wurden auch Studierende „mit Erbkrankheiten und schweren Leiden“ exmatrikuliert.

Bekanntlich wollte davon nach 1945 niemand etwas gewusst haben und Österreichs jüngste Republik gründete sich auf dem Mythos, das erste Opfer des Nationalsozialismus gewesen zu sein. Die Alliierten gaben sich damit jedoch nicht zufrieden und erinnerten die Übergangsregierung – wie bereits 1943 in der Moskauer Deklaration angekündigt – an ihre Verantwortung. In „Volksgerichten“ wurde NS-Verbrecher*innen der Prozess gemacht, Reichsdeutschen sowie frühen NSDAP-Mitgliedern wurde umgehend die Lehrbefugnis und das Wahlrecht entzogen.

Überdurchschnittlich hoch war der Anteil der Belasteten an der Medizinischen Fakultät, der BOKU und der WU, die damals noch Hochschule für Welthandel hieß. Die Politikwissenschaftlerin Elke Rajal erklärt: „1945 hat für die Minderbelasteten keine schwerwiegende Zäsur in ihrer Karriere bedeutet. Zudem hat man sich bemüht, die katholisch-konservative Prominenz aus dem In- und Ausland zurück an die Uni zu holen, anstatt jüdischer Wissenschafter geschweigedenn Wissenschafterinnen."

VERDRÄNGUNG UND VERBOT. Wahrlich große Defizite zeigen sich auch in der Auseinandersetzung mit den zugrundeliegenden Ideologien der NS-Herrschaft. Man konterte mit Nationalismus unter anderen Vorzeichen. „Der Österreichpatriotismus wurde einfach vom Ständestaat übernommen“, sagt der Historiker Gerhard Jagschitz. „Er hat sicher nicht den Kern erreicht, aber er hat sowohl auf konservativen als auch linken Fundamenten ein gewisses Selbstbewusstsein als Gegensatz etabliert.“ Die „Reeducation“ beschränkte sich auf wenige Ausstellungen zum Holocaust, kulturelle Propaganda der jeweiligen Besatzungsmacht und die Berichterstattung über NS-Prozesse, die als Einzelfälle dargestellt wurden.

Dementsprechend ist zwar der Deutschnationalismus längst nicht mehr mehrheitsfähig, der Opfermythos hielt sich jedoch bis zur Waldheim-Affäre 1986 und darüber hinaus. Eine breite Auseinandersetzung mit der Funktionsweise des Antisemitismus ist bis heute nicht geschehen und der vielfach geforderte, doch schon längst gezogene „Schlussstrich unter der Geschichte“ weist darauf hin, dass die Qualität der Vernichtungspolitik im Nationalsozialismus im Schulunterricht unzureichend vermittelt wird. Vermehrt sammeln sich an den Universitäten reaktionäre Gruppen und zeigen sich selbstbewusst in der Öffentlichkeit. Die Geschichte lehrt uns, dass inhaltliche Kritik notwendig ist. Es reicht nicht, mit Empörung und moralischem Fingerzeig auf das Verbotsgesetz und den unverwirklichten antifaschistischen Grundkonsens hinzuweisen, will man eine neuerliche rechtsextreme Hegemonie verhindern.

 

David Ring studiert Soziologie an der Universität Wien.

Veranstaltungshinweise
Gedenkveranstaltung zum 50. Todestag von Ernst Kirchweger der ÖH Uni Wien
1010 Wien, Universitätsstraße 7, Neues Institutsgebäude, Hörsaal 2
20.03.2015, 18.30 Uhr
Ernst Kirchweger (1898-1965): Das erste Todesopfer politischer Gewalt in der Zweiten Republik
Eine Veranstaltung des DÖW zu seinem 50. Todestag
1080 Wien, Schulungszentrum des Wiener Straflandesgerichts, Eingang Wickenburggasse 18-22
25.03.2015, 18.00 Uhr (Einlass ab 17.30 Uhr)

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