Ich heiße Hallo!

  • 22.10.2013, 18:29

Dass Mehrsprachigkeit eine Bereicherung und kein Grund zum Schämen ist, hat eine Volksschule in Wien Brigittenau erkannt. In der Europaschule können Kinder neben Deutsch, Englisch und ihrer Muttersprache 15 verschiedene Sprachen lernen.

Dass Mehrsprachigkeit eine Bereicherung und kein Grund zum Schämen ist, hat eine Volksschule in Wien Brigittenau erkannt. In der Europaschule können Kinder neben Deutsch, Englisch und ihrer Muttersprache 15 verschiedene Sprachen lernen.

Die Türe zur Schule ist noch verschlossen. Die Pädagogin Monika Kerschbaumer steht im Eingangsbereich der Europaschule in Brigittenau und empfängt SprachlehrerInnen für Chinesisch, Arabisch oder Tschetschenisch, die nach und nach eintrudeln und im kommenden Jahr die Sprachenworkshops an der Volksschule halten werden. Beim Eintreffen der LehrerInnen gibt es fast dieselbe Wiedersehensfreude wie bei den Kindern nach den Sommerferien. Viel Zeit zum Reden bleibt nicht: Die Workshops beginnen bald, alle sind ein bisschen aufgeregt. Über Kerschbaumer prangt auf einer Regenbogenfarbenwand stolz der Leitspruch der Schule: „Alle Kinder der Welt sind unsere Kinder.“ Hinter ihr wuseln die angehenden WeltenbürgerInnen noch schnell die Treppen auf und ab, die Zeit zwischen gemeinsamem Frühstück in der Schule und dem Unterrichtsbeginn wird genützt, um Energieüberschüsse loszuwerden. Dazwischen tummeln sich interessierte Eltern mit ihren Kindergartenkindern und die neuen SprachlehrerInnen werden zu ihren Klassen gelotst.

Kerschbaumer ist gemeinsam mit drei anderen Kolleginnen für das Projekt „Sprachenkarussell“ zuständig. Das Sprachenkarussell soll Sprachenvielfalt fördern und vor allem das Interesse der SchülerInnen wecken: Bis zu 15 Sprachen hat die Schule im Rahmen des Karussells im Angebot. „Die Kinder wählen am Anfang des Jahres eine Sprache aus, die allerdings nicht ihre Muttersprache sein darf. Dann haben sie die Möglichkeit, diese Sprache ein Jahr lang kennenzulernen“, erklärt Kerschbaumer. Die meisten SprachlehrerInnen kommen aus dem eigenen Lehrkörper. Nur wenige Sprachen werden von externen Lehrenden unterrichtet, zum Beispiel Arabisch oder Chinesisch. Vor fünf Jahren wurde das Projekt erstmals durchgeführt, anfangs noch in allen Schulstufen. Mittlerweile können die ZweitklässlerInnen freiwillig teilnehmen, für die dritten und vierten Klassen ist die Teilnahme am Karussell Pflicht.

Sprachenschnuppern. Heute dürfen die Kinder in drei verschiedenen Workshops in jeweils eine Sprache hineinschnuppern, bevor sie sich für den Rest des Schuljahres auf eine festlegen. Im Klassenraum von Gabi Lener findet der Spanischunterricht statt. Lener ist neben Kerschbaumer Teil des Sprachenkarussell-Teams und gleichzeitig Klassenvorständin der 3C.

Rund zehn Kinder haben sich heute für die Spanischgruppe entschieden. Auf dem großen, bunten Teppich im hinteren Teil des Klassenzimmers sitzen die Kinder in einem Kreis und starren auf die Zettel, die die Lehrerin hochhält. Lange zuhören, sich berieseln lassen oder gar stumpfsinnig von der Tafel abschreiben gibt es hier aber nicht. Es geht vor allem darum, die Sprache kennen zu lernen und miteinander zu reden. „Emily, schmeiß mal den Würfel und frag ihn, wie er heißt!“ „¿Como te ... llamas?“, sprudelt sie hervor. „Soy Achmed“, erwidert ihr Kollege. „¿Como te llamas?“, fragt die Lehrerin ein schüchternes blondes Mädchen, das neben Achmed sitzt. „Soy Ola“, sagt die Kleine. „Ich heiße Hallo?!“, sagt die Lehrerin darauf. „Sie heißt auf Polnisch Ola!“, belehrt ein Klassenkamerad die Lehrerin. Hier lernt jede von jedem. Zurück bei den Zetteln: „Was ist da dabei, das ihr nicht kennt?“ – Die Kinder antworten: „Das komische Fragezeichen!“

Foto: Johanna Rauch

Die Schule befindet sich in der Brigittenau, einem Bezirk, der für viele einen „Integrationsbrennpunkt“ in Wien darstellt. Für zahlreiche SchülerInnen ist die Umgangssprache zuhause eine andere als Deutsch. Von den 370 SchülerInnen der Schule haben 85 Prozent eine andere Erstsprache und beherrschen somit mindestens zwei Sprachen. „Unser oberstes Ziel ist es, dass Sprachen wie Albanisch, Ungarisch oder Polnisch mit den sogenannten Prestigesprachen wie Spanisch, Französisch oder Italienisch gleichgestellt werden. Eigentlich stehen uns diese Sprachen auch näher als viele andere“, erklärt Kerschbaumer. Die meisten Kinder an der Schule haben Bosnisch, Kroatisch oder Serbisch (Sprachfamilie „BKS“, Anm. der Red.) als Muttersprache, gefolgt von Türkisch. Schon jetzt haben 60 Prozent aller Zweijährigen in Wien eine andere Erst- oder Familiensprache als Deutsch. Anstatt dieses Potential zu nutzen, lernen die Kinder in der Regel aber eher ihre zweite Sprache zu verstecken.

Rappen auf Romani. Die Idee des Sprachenkarussells entstand in einer ehemaligen Klasse Leners, in der 100 Prozent der Kinder eine andere Muttersprache als Deutsch hatten. „Natürlich konnten die alle gut Deutsch, weil sie ja vorher im Kindergarten waren, aber sie hatten viele Sprachkompetenzen. Und da sind die Kinder auf die Idee gekommen: Man könnte doch auch die Sprachen der anderen lernen!“ Daraufhin haben die Verantwortlichen der Europaschule begonnen, Sprachkurse zu organisieren. Anfangs waren vor allem die klassischen Fremdsprachen gefragt. Mit der Zeit hat sich das aber geändert. „Viele unserer LehrerInnen unterrichten im Sprachkarussell und verkörpern dadurch bestimmte Sprachen, wodurch sich deren Stellenwert geändert hat.“ Beobachten konnten die LehrerInnen dies zum Beispiel beim oft stigmatisierten Romani: „Vor Jahren haben wir die Kinder gefragt, wer zuhause Romani spricht, und es hat niemand aufgezeigt. Aber dann hatten wir einen Rapper zu Gast, der Workshops auf Romani gehalten hat. Dann waren es auf einmal viel mehr.“ Jetzt ist Romani eine beliebte Wahl unter den Kindern. Die Romanilehrerin ist außerdem Musikerin und arbeitet auch mit Harri Stoijka zusammen. „Den kennen die Kinder und finden ihn toll“, erzählt sie. Mit diesem Angebot kann die Schule auch der sozialen Ausgrenzung, welcher MigrantInnen oft ausgesetzt sind, entgegenwirken: „Das ist dann nicht mehr nur die Ausländersprache, sondern ein Unterrichtsfach – und etwas wert.“

Nach einer knappen Stunde haben alle Kinder den Workshop gewechselt. Im EDV-Raum lernen die Kinder Urdu von einer Lehrerin, die zuvor selbst Schülerin an der Europaschule war: im Mama-lernt- Deutsch-Kurs. „Fällt euch etwas auf beim Schreiben?“, fragt Kerschbaumer, die im Urdu-Kurs assistiert. „Das geht von rechts nach links!“, sind sich hier die Kinder einig. Nebenan lernen die Kinder in der 4A Iwrit – Neu-Hebräisch. Ein paar Türen weiter können die Kinder bereits nach ein paar Minuten auf Romani bis zehn zählen. „Jekh, duj, trin, štar, pandž ...“, geht es reihum. Ein „Perfekt!“, ernten die SchülerInnen dafür von ihrer Lehrerin.

Natürlich gibt es auch abseits des klassischen Fremdsprachenkanons unterschiedliche Prestigegrade unter den Sprachen, diese aber lassen vor allem die Kinder noch eher unberührt – sobald es positive Identifikationsfiguren in der Schule gibt. „Was ich schade finde, ist, dass wir bisher noch keine Auseinandersetzung damit hatten, dass sowohl Hebräisch als auch Romani zwei Sprachen von Opfergruppen des Nationalsozialismus sind. Das wurde von den beiden Lehrerinnen zwar schon einmal angesprochen, die Diskussion dazu fehlt aber noch“, sagt Lener.

Neben dem vielfältigen Fremdsprachenunterricht des Sprachkarussells wird den SchülerInnen der Europaschule auch muttersprachlicher Unterricht angeboten. Abgesehen von Elitegymnasien mit Prestigesprachenförderung sucht man oft vergeblich nach Angeboten für muttersprachlichen Unterricht. Tatjana Tišler, deren eigene Muttersprache Kroatisch ist, unterrichtet BKS an der Europaschule und hat damit die größte Gruppe in muttersprachlichem Unterricht an der Schule zu betreuen. Der Muttersprachenunterricht ist in den Regelunterricht integriert. „Wenn ich mit meinen Kindern in kleinen Gruppen lerne, ist der Unterricht so geplant, dass sie nichts versäumen.“ Rund 160 Kinder an der Schule sprechen BKS. Neben der schulischen Vermittlung sieht Tišler ihre Aufgabe auch darin, die Eltern zu ermutigen, mit den Kindern die Muttersprache zu sprechen: „Deutsch lernen sie sowieso in der Schule.“

Wie passt das nun mit der Diktion „Deutsch vor Schuleintritt“ oder gar einem Deutsch-Gebot, das an vielen Schulen existiert, zusammen? „Das halte ich beides für ein absolutes Unding“, stellt Lener klar. Wer sich für eine Schule anmeldet, müsse sowieso andere soziale Skills vorweisen, und wer wirklich noch kein Deutsch spreche, könne sich das sehr schnell in der Schule aneignen. „Wenn SchülerInnen während des Unterrichts eine andere Sprache als Deutsch sprechen, haben die kein Geheimsystem, sondern verstehen etwas nicht und kommunizieren darüber, wie man das Problem lösen kann. Das sagen auch alle Studien.“

Schuldemokratie. Neben der Sprachförderung setzt die Europaschule auch auf demokratische Mitgestaltung durch die Eltern, aber auch durch die SchülerInnen. Einige Eltern sind außerdem durch die Sprachkurse in die Schule eingebunden: Sie unterrichten selbst oder fungieren als AssistentInnen. Nebenbei kooperiert die Schule auch mit der MA17 des Integrationshauses Wien und deren Projekt Mama lernt Deutsch. „Das ist ja ein furchtbar ungeschickter Name. Aber die Frauen kommen trotzdem“, lacht Lener und wünscht sich in Zukunft eine noch bessere Einbindung der Eltern.

Mittlerweile sind die Kinder bei der letzten Station für heute angekommen. Im 1. Stock stehen zehn Kinder aufgereiht vor der Klasse. Im Französischunterricht gibt es nämlich dieses Mal eine Modenschau. Unter Kichern drucksen ein paar Kinder ein „Beau!“ oder „Joli!“ hervor. Das Publikum drinnen bewertet die Models – Mädels und Burschen – mit den neu gelernten Adjektiven. Einen Stock unterhalb lernen die Kinder die neue Chinesischlehrerin kennen, die ihre SchülerInnen auf ein Spiel mit Zahlen vorbereitet. Aber die Zahlen scheinen noch nicht so gut zu sitzen. Also: „Noch einmal von vorne!“

Die Preise und Auszeichnungen, die die Europaschule bisher erhalten hat, scheinen ihr Recht zu geben: In jedem Stock hängen Plakate, die Zeugnisse ihres Erfolgs darstellen. Preisträgerin der SozialMarie, Auszeichnung des Kompetenzzentrums für schulische Tagesbetreuung des BMUKK, equal education Socrates Qualitätssiegel und das Europasiegel für innovative Sprachprojekte sind nur wenige davon. „In meiner letzten Klasse waren drei blitzgescheite Buben mit türkischer Muttersprache, die haben sich zum Abschluss T-Shirts gedruckt“, erzählt Lener: „Auf denen stand: Bizde size alistik, sizde bize alisi – Wir haben uns an euch gewöhnt, gewöhnt euch auch an uns.“

 

Die Autorin studiert Philosophie an der Uni Wien.

AutorInnen: Vanessa Gaigg